Hirsch, Cornelius

Himmelsmechanik

9 Palindrome für Bläser- und Schlagwerkbesetzungen mit einzelnen Solisten

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Perc.pro PP10232013
erschienen in: das Orchester 10/2013 , Seite 79

„Wie fang ich nach der Regel an?“, fragt der durch nächtliche Turbulenzen irritierte Ritter Stolzing den Schuster-Poeten Hans Sachs in Wagners Oper Die Meistersinger. Dessen Antwort hat sich Cornelius Hirsch, Tonsetzer und Philosoph dazu, als Maxime hörbar zu eigen gemacht: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.“ Wer seine „Neun Palindrome“ für wechselnde Bläser- und Schlagwerkbesetzungen mit einzelnen Solisten geduldig durchhört, dem kommen – nahegelegt durch den kosmologischen Obertitel Himmelsmechanik – Wesensbestimmungen der Musik in den Sinn, die der Philosoph, Physiker und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz im 18. Jahrhundert traf: „Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, der nicht bewusst ist, dass sie rechnet“, oder: „Musik ist ein Abbild der universellen Harmonie, die Gott in die Welt setzte.“ Auch wenn das Spiel des Ton-Arithmetikers Hirsch mit selbstgesetzten Regelsystemen nicht an die Sphären einer Musica coelestis heranreicht, die Bach in seiner Kunst der Fuge, im Musikalischen Opfer, den „Goldberg- Variationen“ oder Kanonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ erahnen lässt – dass es ihm gelingt, die „Undenkbarkeiten, die uns die Wissenschaft über kosmische und atomare Bereiche zumutet“, fasslich und genießbar auf die „handhabbareren Dimensionen der Klangverlaufsformung“ herunterzubrechen, muss der Neid ihm lassen. Seine Musik solle autonom sein, erklärt Hirsch im Beiheft. „Ohne Rücksicht auf außenstehende Befindlichkeiten“ folge sie allein allgemeinen Regeln. Sie wolle nur „sich selbst bezwecken“. Mithin „Naturdingen“ ähneln (wie Klima, Geologie, kosmische Gegebenheiten), deren Erscheinungsarten einzig physikalischen Tatsachen geschuldet sind. Ohne metaphysischen Hintersinn.
Was auf seine Palindrome, die wie von ungefähr beginnen und unvermittelt abbrechen, zweifelsohne zutrifft. So naturgesetzeshörig sich die Kristallisationen, Konfigurationen, Aberrationen, Kumulationen, Variationen, Rotationen, Pulsationen, Selektionen und Mutationen ausnehmen, so musiktheoretisch, mathematisch bzw. physikalisch lauten ihre verfahrenstechnischen Untertitel: Passacaglia im Sekundenzirkel, 3-fach Kanon für 3 Trios, 5-fach Iteration einer 7-Tonstruktur, serielle 8-fach Fuge in 7 Tönen als 11-Palindrom mit chaostheoretischer Implosion, 2 x 7 Variationen von vier 7-tönigen Themen, Monumental-Zwiefacher im Kleinterzzirkel, Mehrfachspiegelung 2- bis 7-teiliger Strukturen für 8 Instrumente, Liebesliederwalzer über ein pauschales Choralthema, 16-teiliges Anagramm aus 7 Tönen. Tonsatz-Algebra. Wobei sich freilich die alte Weisheit bestätigt, dass einfache Zahlenverhältnisse bzw. Mengenproportionen, 3-, 5-, 7- oder auch 8-fache Erscheinungen, Wiederholungen, Wandlungen und deren Mehrfache dem ästhetischen Nerv des Menschen wohlgefallen. Im Übrigen zeigen die rückläufigen Verlaufsformen, die Cornelius Hirsch ertüftelt, eine erstaunliche klangfarbliche und zeitökonomische Vielfalt. Dank der geneigten Bläsergruppen, Schlagzeuger, Solostreicher und Gesangsstimmen, die unter dem ungarischen Dirigenten Mihaly Kaszas wie des Komponisten eigener Leitung dessen himmelsmechanische Zahnradsysteme mit unerschütterlichem Gleichmut in Gang halten.
Lutz Lesle