Herbert von Karajan

The Legend

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI Classics 50999 5 15934 2 1, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 07-08/2008 , Seite 64

Zu seinen Lebzeiten hieß es „Das Wunder Karajan“, zum 100. Geburtstag, 19 Jahre nach seinem Tod, ist daraus „Karajan – The Legend“ geworden. Ein anderer Name für dasselbe Phänomen, denn an den Eindrücken, die die damals als Wunder geltenden Aufnahmen des Maestros aus den 1970er und 1980er Jahren hinterließen, hat sich nichts geändert.
Eine Art Schnelldurchlauf durch die mit ihnen vermittelte Ästhetik bieten die beiden CDs, die von EMI jetzt zum Jubiläum herausgebracht worden sind. Hi-Fi Karajan und Karajan in Stereo hießen die bunten Mischungen früher und enthielten dieselbe populäre Klassik wie jetzt: romantische Ouvertüren, Intermezzi und Märsche aus italienischen und französischen Opern, Strauß-Walzer und -Polkas, das eine und andere kürzere Orchesterstück impressionistischer Provenienz.
Während bei den einstigen Zusammenstellungen auf LP meist nur Stücke in Originallänge zum Erklingen kamen, hat man jetzt das Spektrum des Angebots durch Ausschnitte aus größeren Werken erweitert und damit den Wert dieser Doppel-CD doch geschmälert. Denn nun ist das Ganze nur noch eine Demonstrations-Edition – ein Appetizer, mit dem man in die Karajan-Klangwelt einmal hineinschnuppert, aber die Hörprobe der eigenen Audiothek als endgültigen Bestandteil doch nicht hinzufügen möchte. Wer sammelt schon Wolfgang Amadeus Mozarts große g-Moll-Sinfonie mit nur dem ersten, Peter Tschaikowskys 6. Sinfonie nur mit dem 2. oder Antonín Dvoráks 9. Sinfonie nur mit dem 4. Satz? Zu Karajans Lebzeiten gehörte sinfonischer Häppchenkonsum noch nicht zur Legendenbildung.
Würde man Karajans Dirigieren mit einem Filmregisseur vergleichen, so wäre er eindeutig ein Mann der Totalen, der Draufsichten, der Vogelperspektiven. Die Steigerung der Großverläufe, die Sorge um den homogenen Fluss des Klanggeschehens bei vollkommen störungsfreier Einbindung aller Binnenstrukturen ist der alles beherrschende Eindruck selbst in den kleineren Piècen dieser CDs. Da hat sich auch in der Entwicklung des Meisters eigentlich kaum etwas verändert. Die Aufnahme der Fledermaus-Ouvertüre von 1942 unterscheidet sich lediglich in einer geringfügig idiomatisch gebeizteren, bissfesteren Haltung von der hier vorliegenden Produktion von 1975. Auch Bedrich Smetanas Die Moldau, neben dem ebenfalls hier gebotenen Bolero eine der Aufnahmen, die Karajan jedem auch nur eine Klassikplatte sein Eigen nennenden Zeitgenossen zum Synonym ernster Musik machte, ist 1977 nur unwesentlich glätter und strähniger ausgefallen als in der ersten Karajan-Moldau von 1940.
Karajans Sfumato-Ästhetik mit ihren gut polierten Oberflächen und ausbalancierten Binnenstrebungen funktioniert zu allen Zeiten wie ein leistungsstarker Motor, der ob seiner perfekt abgestimmten Einzelmechaniken jedes Drosseln und Gasgeben als ein wohliges Sicherheitsgefühl in den gut gefederten Sitzpolstern einer verkehrsgerechten Musikgesellschaft genießen lässt.
Bernhard Uske