Heidlberger, Frank (Hg.)

Hector Berlioz

Memoiren, neu übersetzt von Dagmar Kreher

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2007
erschienen in: das Orchester 04/2008 , Seite 61

„Mein Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert“, schrieb Hector Berlioz einmal an einen Freund. Was lag für den genialen Feuerkopf da näher, als tatsächlich einmal über seine Biografie schriftlich Auskunft zu geben? Umso mehr, als bereits diverse Texte über ihn erschienen waren, die, so Berlioz, derartig „fehlerhaft und ungenau“ waren, dass er sich bemüßigt fühlte, nun selbst das Wort zu ergreifen. Und so begann er im März 1848 mit der Niederschrift seiner Memoiren. Mit der ihm eigenen entwaffnenden Offenheit merkte er zu Beginn dieser Arbeit an: „Ich habe nichts Besseres zu tun.“ Nichtsdestoweniger sollte sie ihn, mit Unterbrechungen, noch bis zum ersten Tag des Jahres 1865 beschäftigen.
Bei Berlioz’ Memoiren handelt es sich nicht einfach um eine chronologische Autobiografie; sie ist aus mannigfachen Quellen zusammengesetzt: erzählenden Texten, Briefen, Reiseberichten, Betrachtungen über Musik und Musikleben. Was sie so faszinierend macht, ist, dass Berlioz sich in seiner ganzen Exzentrik, Leidenschaft und Widersprüchlichkeit präsentiert – er nimmt hier ebenso wenig ein Blatt vor den Mund wie in seinen Feuilletons. Vor allem schont er, bei aller Größe seines Egos, sich selbst in keiner Weise: Die Selbstironie, mit der er etwa den geplanten Mord an einer untreuen Geliebten schildert, sucht ihresgleichen und würde manch anderem Verfasser autobiografischer Schriften zur Ehre gereichen. Nicht zuletzt erfährt der Leser über die Schwierigkeiten, mit denen Berlioz als Komponist und Dirigent zu kämpfen hatte: Kulturlose Politiker, in Routine erstarrte Musiker, selbstherrliche Intendanten – all dies ist keine Erfindung unserer Zeit; ein Gedanke, der vielleicht etwas Tröstliches hat.
Lange Zeit lag dieses Buch nur in uralten Übersetzungen vor, die auch für diverse spätere Ausgaben benutzt wurden. Die vorliegende vollständige Neuübersetzung von Dagmar Kreher war somit längst überfällig – und sie ist im Ganzen hervorragend gelungen. Eine ebenso klare und bündige wie auch bildhafte Sprache nimmt von Anfang an für sich ein. Manchmal war es, so die Übersetzerin, nötig, gewisse Wortspiele sprachlich völlig neu zu schöpfen, damit sie verständlich werden; dies macht Sinn und überzeugt auch größtenteils. Herrlich die Widergabe des italienischen Akzents von Berlioz’ Intimfeind Luigi Cherubini („Ik-ä verbiete, dass Sie kommen wieder!“); derartige Kabinettstückchen finden sich in den älteren Übersetzungen nicht.
Einen ebenso großen Anteil am Erfolg dieser Neuausgabe hat indes der Herausgeber Frank Heidlberger: Zahlreiche Fußnoten und Kommentare verschaffen einen zusätzlichen Einblick in das von Berlioz Berichtete, erklären Äußerungen, die heute vielleicht nicht mehr verständlich sind, und korrigieren zahlreiche sachliche Irrtümer, die Berlioz selbst bei der Abfassung seiner Memoiren unterlaufen waren. Zu guter Letzt gibt es noch eine ausführliche biografische Übersicht sowie ein Personenglossar, in denen man sich über die vielen von Berlioz erwähnten Persönlichkeiten informieren kann. Insgesamt ein exquisites Lesevergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte – auch diejenigen nicht, die Berlioz’ Musik kritisch gegenüberstehen.
Thomas Schulz