Kerstan, Michael / Clemens Wolken (Hg.)

Hans Werner Henze

Komponist der Gegenwart

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Berlin 2006
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 85

Im Jahr 1996 veröffentlichte Hans Werner Henze aus Anlass seines 70. Geburtstags seine Autobiografie Reiselieder mit böhmischen Quinten, ein höchst lesenswertes Buch, das nicht nur von einer reichen und produktiven Vita berichtet, sondern vor allem deutlich macht, dass dieser Komponist – der lange verdächtigt wurde, die Mühen der Avantgarde zu umgehen, um sich mit „schöner Musik“ ein „schönes Leben“ zu machen – zu den unbeugsamsten und unabhängigsten Künstlern unserer Zeit gehört. Nun ist Henze achtzig geworden, ein Ereignis, das weltweit begangen wird und sich auch in einigen neuen Buchveröffentlichungen niederschlägt.
Unter diesen ragt der vorliegende Text-/Bildband – herausgegeben von zwei langjährigen Henze-Mitarbeitern – als ebenso opulent wie liebevoll gestaltete Reverenz hervor. Das Buch ist mehrsträngig aufgebaut: Etwa dreißig aus aktuellem Anlass verfasste Grußworte und Essays werden kontrapunktiert durch Skizzen und Partiturausschnitte sowie durch eine eindrucksvolle Fotoserie, die Henzes Bühnenwerke aus mehr als einem halben Jahrhundert – vom Wundertheater (1948) bis L’upupa (2003) – an uns vorüberziehen lässt.
Neben prominenten Komponistenkollegen wie Peter Maxwell Davies und Oliver Knussen, Interpreten wie Simon Rattle, Riccardo Chailly und Ian Bostridge, ehemaligen Schülern wie Mark Anthony Turnage, Jörg Widmann und vielen anderen sind es nicht zuletzt Henze-Mitarbeiter und -Kenner des italienischen Kulturkreises, deren Textbeiträge das Buch für uns aufschlussreich machen, da sie uns einen Eindruck vom Wirkungskreis seines Œuvres in jenem Land vermitteln, das Henze 1953 zu seiner Wahlheimat erkor. Auf Henzes immense Kreativität im Bereich der Musikerziehung und nicht zuletzt auf die Langzeitwirkungen seiner pädagogischen Aktivitäten verweist ein Artikel des Herausgebers Michael Kerstan, während Co-Editor Clemens Wolken in einem reich bebilderten Interview jenen Mann porträtiert, der hier zu Recht als Henzes „Beschützer, rechte Hand und Seele“ charakterisiert wird: Fausto Moroni, des Maestros Lebensgefährte und Sekretär.
Schon der Einband lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen Kernbereich des Henze’schen Œuvres, das Musiktheater: Wir sehen Agaue mit dem Kopf des Pentheus, ein eindrucksvolles Szenenfoto aus einer der jüngsten Bassariden-Inszenierungen. Auf der Rückseite des Buchs finden wir einige Sätze Henzes, die gewiss mit dem Anspruch eines schöpferischen Credos formuliert wurden. Wie die Quintessenz seines langen – und durchaus noch nicht beendeten – Künstlerlebens mutet der Satz an: „Die Versammlungsorte verlassen, sich vorbereiten auf neue Stimmen, die nicht im Wind einer ,Richtung‘ tönen […]“
Wer nicht schon Henze-Verehrer war, muss es beim Betrachten und Lesen dieses in jeder Hinsicht gewichtigen Bandes fast zwangsläufig werden.
Gerhard Anders