Hans Rosbaud

The Complete Recordings on Deutsche Grammophon

Rubrik: CDs
Verlag/Label: DG
erschienen in: das Orchester 01/2005 , Seite 88

„Original statt Fälschung“ lautete im Frühjahr 2003 eine hauseigene Meldung der Deutschen Grammophon. Mit dieser griffigen Formulierung startete das Label mit der Wiederauflage von historischen Aufnahmen in einem Umfang, wie man es kaum erwartet hatte. „Bevor sich Raubpresser“, hieß es da, „über einige der schönsten, bisher noch nicht international auf CD wiederveröffentlichten Aufnahmen der Deutschen Grammophon aus den 50er und 60er Jahren hermachen, kommen ihnen die ,Original Masters‘ zuvor.“
Der Hintergrund für diese umfangreiche Auswertung der eigenen Archive ist die Tatsache, dass nach neuem Urheberrecht die
Lizenzen von Interpreten und Schallplattenfirmen an ihren Aufnahmen nach 50 Jahren auslaufen. Danach können auch Fremdfirmen zugreifen und Kopien dieser Einspielungen in eigener Regie veröffentlichen, ohne ernste juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Nicht nur die Deutsche Grammophon, sondern auch die anderen unter dem Dach der Universal beheimateten Traditionslabels Decca und Philips öffneten ihre Archive und brachten eigene Serien z. T. noch nie auf CD veröffentlichter Aufnahmen von Dirigenten, Instrumentalisten, Kammermusikensembles und Sängern heraus – zur Freude vieler Sammler und Liebhaber, die nun vielleicht manche abgenutzte Langspielplatte ausmustern können.
Die Deutsche Grammophon bietet als „Original Masters“ Aufnahmen u. a. von Eugen Jochum, Ferenc Fricsay, Igor Markewitsch und Wilhelm Furtwängler an. Decca ergänzte das Programm mit raren Tondokumenten etwa der Dirigenten Josef Krips, Leopold Stokowski, Eduard van Beinum, Georg Solti, Erich Kleiber und Carl Schuricht. Philips ist u. a. mit Aufnahmen von Arthur Grumiaux aus den 50er und 60er Jahren beteiligt.
Mit Hermann Scherchen, Paul Hindemith und Hans Rosbaud seien hier drei Editionen von markanten Dirigenten-Persönlichkeiten hervorgehoben, die besonders die Rezeption der Musik des 20. Jahrhunderts beeinflusst haben. Paul Hindemith tritt als Interpret eigener Werke hervor, auf drei CDs sind sämtliche Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern versammelt, die zwischen 1954 und 1957 entstanden sind (darunter fünf Aufnahmen, die bislang noch nicht auf CD erschienen sind). Hindemith stand, und das ist hier sehr gut hörbar, für einen ganz klaren, eher nüchternen, auf die präzise Umsetzung des Textes gerichteten Dirigierstil. Pultstar-Allüren waren ihm fremd. Ihm gelang und genügte es, eine Partitur mit hellwachem Intellekt und grundsolidem Handwerk zu verlebendigen. Ein kurzes Interview mit dem Komponisten und Dirigenten über die Aufnahme von Mathis der Maler rundet die Edition sinnvoll ab.
Auf fünf CDs wird Hermann Scherchen einmal nicht als Fürsprecher der Avantgarde vorgestellt, sondern als Haydn-Interpret. Besser gesagt: als Haydn-Pionier. Denn sich intensiv mit Haydn zu beschäftigen und darauf sogar eine Schallplattenkarriere zu gründen, war in den 50er Jahren noch sehr ungewöhnlich. Erstmals auf CD liegen hier Scherchens Westminster-Aufnahmen u. a. der zwölf Londoner Sinfonien vor, damals die erste Einspielung des kompletten Zyklus. Wenn sich diese Aufnahmen auch mit der ausgefeilten Raffinesse späterer Haydn-Einspielungen nicht messen können, imponiert bei Scherchen doch die Ehrlichkeit und Schnörkellosigkeit im Umgang mit dem im Aufnahmestudio lange gering geschätzten Komponisten. Ein Highlight dieser für die Haydn-Rezeption des 20. Jahrhunderts überaus bedeutenden Edition ist die Stereoaufnahme der „Abschieds-Symphonie“ (Nr. 45) von 1958, in
der alle gestalterischen Tugenden Scherchens auch durch das transparente Klangbild exemplarisch hervortreten.
Wie Hermann Scherchen war auch Hans Rosbaud ein glühender Verfechter der Avantgarde, seine Arbeit in Baden-Baden mit dem Sinfonieorchester des Südwestfunks war in dieser Hinsicht bahnbrechend. Seine sämtlichen Aufnahmen für die Deutsche Grammophon sind eine willkommene und geradezu notwendige Hommage an diesen außergewöhnlichen Dirigenten, der penibel und gewissenhaft probierte, wie es sich Orchester heute gar nicht mehr vorstellen können. Die Edition stellt den Dirigenten nicht nur als hellsichtigen Interpreten von Blacher, Strawinsky, Berg und Webern vor, sondern auch als Könner im Bereich der Klassik und Romantik. Dass bereits einige Aufnahmen als Einzel-CDs veröffentlicht wurden (z. B. Sibelius), schmälert den Wert dieser Edition kaum, nicht zuletzt auch wegen der Wiederbegegnung mit dem Pianisten Julian von Karolyi im zweiten Klavierkonzert von Rachmaninow. Aufnahmen mit ihm sind Raritäten.
Die klangliche Aufbereitung der „Original Masters“ ist sehr gut gelungen. Denn hier profitiert der Sammler davon, dass die Digitalisierung direkt vom Original-Analogband erfolgte. Die Boxen aus Karton erlauben eine Platz sparende Aufbewahrung. Die einzelnen CDs aus den engen Papphüllen zu ziehen, erfordert allerdings einige Vorsicht und Geschicklichkeit.
Die Texthefte sind dreisprachig. Sie enthalten neben den detaillierten Aufnahmedaten auch teilweise erstmals veröffentlichtes Bildmaterial. Eine editorische Großtat auf dem Gebiet der historischen Aufnahmen, der man nur einen dauerhaften Platz im Katalog und viele weitere Folgen wünschen kann. Interessierte sollten bald zugreifen, denn besonders Decca und Philips streichen Aufnahmen oft sehr schnell, so dokumentarisch wertvoll sie auch sein mögen.
Norbert Hornig