Mueller-Stahl, Armin
Hannah
Erzählung
Am besten vergleicht man einen Schauspieler mit einer Geige. Wie sie hat auch er vier Saiten, er muss nur in der Lage sein, sie zu spielen. Dass diese Aussage Armin Mueller-Stahls auf seine schauspielerischen Leistungen zutrifft, können wohl alle bestätigen, die ihn in seiner Vielzahl von Rollendarstellungen im Kino oder Fernsehen gesehen haben. Dass sie aber auch die Vielfältigkeit Mueller-Stahls als Person bezeichnet, der nicht nur Schauspieler, sondern auch ausgebildeter Geiger, bildender Künstler, Regisseur und Schriftsteller ist, werden vielleicht nur die wenigsten wissen.
Um die Geige geht es auch in seiner neuesten Erzählung Hannah, genauer um die Geigenvirtuosin und verstorbene Tochter des Ich-Erzählers Hermann. Dieser trifft sich wenige Jahre nach dem Tod seiner vergötterten Tochter und seiner Frau mit seinem alten Schulfreund Arnold, um endlich das Geheimnis, das das Leben dieser vier Personen geprägt und überschattet hat, aufzudecken. Einen grandiosen Monolog entwirft Mueller-Stahl, eine Selbstvergewisserung des alten Vaters, für den durch den Tod der Tochter das Leben sinnlos geworden zu sein scheint. Als scharfe Anklage gegen den Jugendfreund beginnend, wird die Rückerinnerung und Lebensbeichte von Hermann mehr und mehr zur Selbstanklage, zur schonungslosen Offenlegung einer Intrige, die sein Verhältnis zu Hannah und Arnold zerstört hat.
Die Anlage der Erzählung als monologisierendes Gespräch mit dem Freund birgt zunächst Gefahren. Anfangs fällt es oftmals schwer zu glauben, dass in direkter Rede die Wiedergabe einer Geschichte derart detailliert und kunstfertig gelingen könnte. Die notwendige Verschriftlichung und Stringenz der Handlung und die Aufrechterhaltung der Illusion einer Gesprächssituation geraten des Öfteren in Widerspruch. Doch der fesselnde Monolog des Erzählers Hermann, nur unterbrochen durch kurze Einwürfe Arnolds und Gesprächspausen, in denen die beiden Hannahs Geigenspiel aus dem Kassettenrekorder lauschen, lässt diesen Widerspruch immer mehr zurücktreten, bis man versinkt in Mueller-Stahls fließender Sprachmelodie.
Endgültig aufgelöst wird dieser Widerspruch beim Hören der Erzählung. Armin Mueller-Stahl selbst liest Hannah, und nun wird die Musikalität seiner Sprache besonders offensichtlich. Der Monolog des Erzählers wird eins mit der faszinierenden Stimme Mueller-Stahls und im Falle dieses Buchs scheint die Aufnahme über das Ohr eine fast zwingende Notwendigkeit zu sein. Der Audio Verlag tat gut daran, auf jegliche Musik zur Untermalung oder Verdeutlichung zu verzichten, ist Mueller-Stahl doch sprachmächtig genug, die Poesie und Melancholie der Erzählung einzufangen. Im Hintergrund spielte Hannah die Chaconne von Bach
Und ich hörte sie sagen, wenn ich Bach spiele, weiß ich, was Unendlichkeit ist. Er ist die Unendlichkeit selbst. Bach ist die Brücke ins Jenseits. Mit ihm erreiche ich die Toten. Das Nie-wieder gibt es bei ihm nicht. Nie-wieder ist wie Unendlichkeit. Bei Bach gibt es keinen Tod.
Rüdiger Behschnitt