Shchedrin, Rodion

Gypsy Melody

für Violine solo (2006)

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2010
erschienen in: das Orchester 10/2010 , Seite 71

Werke des 1932 geborenen russischen Komponisten Rodion Shchedrin (auch: Schtschedrin) werden hierzulande recht wenig gespielt, entgegen der ihnen zukommenden Bedeutung. Am ehesten noch sind die Carmen-Suite, eine Ballett-Bearbeitung der Bizet’schen Musik, und einige Klavierstücke wie Basso ostinato zu hören. Shchedrin, bereits in der Sowjetunion Präsident des Komponistenverbands, hat Werke in allen Gattungen veröffentlicht. Nicht sein erstes Stück für Violine solo ist Gypsy Melody, 2006 im Auftrag des „Midori/Repin Commissioning Projects“ entstanden, das sich zum Ziel gesetzt hat, namhafte Komponisten zum Schreiben von „Encores“ von maximal vier Minuten Länge zu bewegen.
Shchedrin eigen ist die Verknüpfung von musikhistorischer Referenz und modernen Kompositionstechniken. So auch hier: Das Werk knüpft an das Idiom und die Spielweise geigender „Zigeuner“ an (der Begriff ist in Deutschland ein Sakrileg, in anderen Sprachen jedoch synonym anzutreffen) und stellt sich damit in die Tradition von Sarasate und Ravel. Die Form ist traditionell: Das zweiteilige Stück beginnt mit einer freien, quasi improvisatorischen Introduktion, der ein sehr schneller Teil folgt. Pate steht das Modell von Vorspiel und Hauptstück, das in der Literatur für Solo-Violine z.B. in Kreislers Präludium und Allegro vorliegt. Das anfängliche Sostenuto in freiem Metrum bietet die Entfaltung einer Melodie, in der der typische Eineinhalbtonschritt zwischen der sechsten und siebten Stufe exponiert wird, unterbrochen von einem gebrochenen Quadrupelgriff im Accelerando, der an den geigenden Tod gemahnt. Im Verlauf wird der Hauptton verlassen, die Intervalle werden enger. Das überwiegende ff fordert große Kraftanstrengung.
Der zweite Teil (Vivace – Presto possible) ist ein Perpetuum mobile, Ausgangspunkt bildet eine kreisende Skalenbewegung, gebildet aus der Halbton-Ganzton-Leiter, deren achttönige Gruppierung gegensätzlich zu den Sextolen-Bögen steht. Die Wirkung ist die eines getriebenen In-sich-Kreisens. Die Intervalle werden wieder gestreckt bzw. gestaucht, jedoch tauchen keine Mikrointervalle auf, der Tonraum wird nach oben ausgelotet. Dem Interpreten wird viel abverlangt: Spiel auf der G-Saite, Arpeggien, Pizzicati in der linken Hand, vogelartige Glissandi. Am Ende läuft das Stück sich tot, in extrem hoher Lage, rasendem Tempo und der größtmöglichen Lautstärke. In einer solchen Übertreibung wird das Stück quasi gestisch.
Shchedrin hält sich an die Vorgaben für die Komposition einer Zugabe, die Vier-Minuten-Grenze wird nicht überschritten, das virtuose Element ist beträchtlich. Das Notenbild ist klar, Zusätze sind sehr gut lesbar. Aber die Sextolengruppen sind recht eng gedruckt, sodass die Hilfslinien fast wirken wie eine Ausweitung des Notensystems auf mehr als fünf Linien. Dem sehr fortgeschrittenen Spieler steht hier ein Stück zur Verfügung, das einem Programm, das traditionelle „Zigeuner“-Stücke enthält, eine reflektierende Ebene geben kann, freilich mit Freude am Zirzensischen.
Christian Kuntze-Krakau