Ricca, Cristina

Goethes musikalische Reise in Italien

Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur, Band 15, hg. von Dieter Borchmeyer

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Peter Lang, Frankfurt/Main 2004
erschienen in: das Orchester 12/2004 , Seite 79

„Sicherlich gehörte Goethe nicht zu den fanatischen Musikliebhabern.“ – So beginnt ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Oktober 2004 über die verbrannten Musikmanuskripte der Anna-Amalia-Bibliothek Weimar. Hätte der Autor das kurz zuvor erschienene Buch von Cristina Ricca gekannt, er hätte diese Aussage sicher nicht so selbstsicher formuliert. Dichter, Politiker, Ingenieur, Naturwissenschaftler, Philosoph: Mit Musik wird das Universalgenie Goethe meist nicht assoziiert.
Dass dies ein Versäumnis ist, belegt Ricca in ihrer Dissertation ausführlich. War Goethe doch nicht nur erster „Ober-Direktor“ des 1791 gegründeten Weimarer Hoftheaters, an dem regelmäßig italienische Opern zur Aufführung kamen, sondern lernte auf seiner großen Italienreise auch vielfältige Formen italienischer Musik kennen, wovon er in Briefen und in seiner Italiänischen Reise ausführlich Zeugnis gibt – darunter nicht nur die aktuellen Opernaufführungen in Venedig, Rom und Neapel sowie die päpstliche und venezianische Kirchenmusik, sondern vor allem auch den Volksgesang. Dabei war Goethe nicht nur passiver Rezipient, sondern erhielt vom Komponisten Philipp Christoph Kayser eine fundierte Einführung in die italienische Kirchenmusik.
Der allgegenwärtige Gesang und die sangliche italienische Sprache führen laut Ricca dazu, dass Goethe sich bemüht, seine eigenen Werke sprachlich umzuschaffen und sanglicher zu machen. Nicht zuletzt kann er mit seinen Libretti Erwin und Elmire und Claudine von Villa Bella als (Mit)Begründer des deutschen Singspiels gelten.
Schön und gut, wird sich mancher fragen, aber wieso sollte ich als Musiker dieses Buch lesen? Weil es zwar eine wissenschaftliche Dissertation mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen ist – 888 Fußnoten, Originalzitate in Französisch und Italienisch etc. –, aber dennoch zum größten Teil so flüssig und spannend geschrieben, dass man sich gerne einfangen lässt. Weil es mehrheitlich gar nicht nur von Goethe handelt, sondern einen Einblick gibt in das von Italien dominierte Musikleben West- und Mitteleuropas im 18. Jahrhundert. Der Buffonistenstreit um die Vorherrschaft des Italienischen oder Französischen als Opernsprache ist uns heute – angesichts kleinlicher Wadenbeißerei über die Frage, ob man „dass“ oder „daߓ schreibt – vielleicht näher, als wir denken. Und weil es schließlich das Verhältnis Text/Musik auf eine Weise thematisiert, die auch für die heutige Interpretationspraxis wertvoll sein kann.
Entgegen steht dem Lesevergnügen hauptsächlich der Preis, der bei wissenschaftlichen Publikationen unvermeidlich zu sein scheint, jedoch auch dazu führt, dass Bücher wie dieses ihr Dasein wohl nur in wissenschaftlichen Bibliotheken fristen werden. Das ist bedauerlich und das Logo des Peter-Lang-Verlags – eine Blume, die aus den Buchseiten emporwächst – lässt sich durchaus unterschiedlich deuten: Viel seltsame Blüten treibt die Wissenschaft, doch auch so manch kostbare Blume ist hier zu entdecken.
Rüdiger Behschnitt

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