Bazzana, Kevin
Glenn Gould
Die Biographie, mit CD
Genie oder Psychopath, Virtuose oder manierierter Rebell? Auch mehr als 20 Jahre nach seinem Tod fasziniert der kanadische Pianist Glenn Gould mit seinen eigenwilligen Interpretationen die musikalische Welt. Der Musikschriftsteller Kevin Bazzana legt nun eine neue Biografie des exzentrischen Künstlers vor, in der er sich Gould fast ausschließlich von der musiktheoretischen Seite her annähert. Nicht um Spleens und Spinnereien geht es, wenigstens nicht in erster Linie, sondern um einen Mann, der einen intellektuellen Zugang zur Musik suchte und diesen unbeeindruckt von manch harscher Kritik durchsetzte.
So untersucht Bazzana unzählige Musikbeispiele des Pianisten, zerlegt und typisiert sie und zeigt einen Künstler, der sich ungeniert über die Vorstellungen der jeweiligen Komponisten hinwegsetzte und jedem Musikstück seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückte. Dabei entdeckt der Autor auch Überraschendes etwa, dass Gould seine Ablehnung romantischer Interpretationen vielfach übertrieb: In seiner Musik musste er seine romantischen Tendenzen stets durch hochmoderne Rhetorik über Struktur rational erklären. Aber die eigenen Leidenschaften rational zu erklären heißt noch lange nicht, dass man sie unterdrückt; tief im Inneren war er ein Romantiker. Goulds Herangehensweise an die Musik trug durchaus romantische Züge, die er auf einzigartige Weise mit seinen hochmodernen Interpretationen zu verbinden wusste.
Ganz nebenbei räumt Bazzana auch mit dem Mythos vom Wunderkind Gould auf, das seine Kunst quasi autodidaktisch erlernte: Praktisch alle hochrangigen Pianisten seiner eigenen Generation können sich mindestens ebenso beeindruckender musikalischer Talente in der Kindheit rühmen wie Gould. So widerfährt auch Goulds Lehrer Alberto Guerrero Gerechtigkeit denn nicht nur Goulds analytischer Zugang zur Musik ist zu einem guten Teil Guerrero zu verdanken: Vieles Charakteristische an Goulds Spiel kann tatsächlich als Intensivierung, Verfeinerung, Bündelung von Guerreros Ausdrucksweise verstanden werden, vielleicht sogar, was das Mitsingen und Mitsummen angeht: Guerreros Tochter Mélisande Irving erklärte, dass ihr Vater ganz leise vor sich hinsummte, wenn er spielte.
Nach und nach entsteht so das faszinierende Bild eines Künstlers, der mehr war als bloß ein Exzentriker auf seinem berühmten Klavierstuhl, aber auch eines Menschen, der normaler gewesen sein dürfte als gemeinhin angenommen. Manche von Goulds Eigenheiten entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Charakterzüge, die er nach außen oft übertrieb, etwa seine Weigerung, fremde Menschen zu berühren, andere wie seine legendäre Hypochondrie kommentierte er durchaus selbstironisch: Es heißt, ich sei Hypochonder, und natürlich bin ich das auch. Kevin Bazzana hat Goulds Legende auch diesbezüglich von Übertreibungen befreit: Seine Biografie zeigt das Bild eines Mannes, der sich letztlich selbst treu geblieben ist in seiner Kunst wie auch in seinem Leben.
Irene Binal