Hermand, Jost

Glanz und Elend der deutschen Oper

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2008
erschienen in: das Orchester 12/2008 , Seite 61

Um Missverständnissen vorzubeugen: Glanz meint nicht die Werke und Elend nicht die Inszenierungen. Jost Hermands Blick auf 15 Opern führt – von Bibers “Chi la dura le vince” (1691) bis zu Rihms “Die Eroberung von Mexiko” (1992) – mitten in die Widersprüche des „seltsamen Zwittergebildes aus Drama, Musik, Kulissenzauber und Ballett“. Unzeitgemäß womöglich, dafür umso aufschlussreicher wird die Gattung dezidiert auf ihre politischen, sozialen und kulturellen Hintergründe und Funktionen hin betrachtet. Dabei steht die Emanzipation der deutschen Nationaloper, deren Themen und Musik die Grenzen des Unterhaltungs- und Repräsentationsbedürfnisses von Höfen und Bürgertum hinter sich lassen, ebenso im Fokus wie jene Werke, die – ob Zauberflöte, Fidelio oder Freischütz – aufklärerisch die Opernbühne demokratisierten und die Massen begeisterten.
Die nachfolgende Trennung von Kunst und Volkstümlichkeit, die Opern-Krisen und Opern-Tode sieht der Autor ebenfalls ökonomisch und ideologisch bestimmt. Lortzings proletarische Revolutionsoper Regina durfte 1848 nicht aufgeführt werden. Der raffinierte Ästhetizismus von Strauss und der deutsch-nationale Konservatismus Pfitzners markieren den Rückzug in Kunst-Enklaven. Politischer Wandel und Massenmedien setzen in den stürmischen 1920ern neue Akzente: Zeitopern und die Verschmelzung von E und U zielen tagesaktuell oder populistisch auf neue Besucherkreise fern der Hochkultur. Doch Brecht/Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny fand sich 1930 als Anti-Oper zwischen allen Stühlen wieder; ihre „Kritik am trostlosen Leben in der Spaßgesellschaft“ lief vergnügt ins Leere.
Jene Flucht in Unterhaltungs-Paradiese begann, für die noch immer Werke und Inszenierungen Sensationen und Spaß parat halten, um Aufmerksamkeit zu erzielen und Eindruck zu machen. Das Pendant zeigte sich im Bestreben, sich einer engagierten Aussage mittels künstlicher Überhöhung zu entziehen und die Realität auf Zeichen und Symbole zu reduzieren. Nur Hartmanns “Simplicius Simplicissimus” lieferte 1935/1956 das Gegenbeispiel eines politischen Schaugerüsts. Dass Hermands Betrachtungen auch modischen Aufführungspraktiken gelten, bleibt nicht aus. Sein Hinweis, der „Banalität und Ratlosigkeit“ sinnstiftend zu begegnen und den Bezug auf Historie, Gegenwart und Zukunft als Erkenntnisanstoß im Kunsterlebnis „aufzuheben“, mag antiquiert wirken. Doch auch die Aufforderung, „lieber die herrschenden gesellschaftlichen Zustände als die Kunstform der Oper in Frage“ zu stellen, sollte als Appell, den utopischen Vorschein der Kunst zu bewahren, statt elitär oder vulgarisierend einen vorgeblichen Endzustand festzuschreiben, ernst genommen werden.
Dass Hermand manches zu eng sieht, beweist das Wozzeck-Kapitel, dessen brillante Analyse die Bühnenwirksamkeit der Musik eher verdeckt. Und warum sein Blick Schreker, Henze oder Bernd Alois Zimmermann nur streift und DDR-Komponisten wie Dessau, Geißler, Matthus oder Udo Zimmermann ausspart, sei als Frage erlaubt.
Eberhard Kneipel