Imbsweiler, Marcus

Geyers Schädel

Eine Kapitulation. Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Conte, St. Ingbert 2013
erschienen in: das Orchester 11/2013 , Seite 68

In Bayreuth wird ein halbvermoderter Schädel gefunden, und die forensischen Untersuchungen bringen Erstaunliches zutage: Das Gesicht ähnelt frappant jenem Richard Wagners, bis hin zum unkleidsamen Kinnbart. Eine Herausforderung für Kommissar Korbinian Haderer und seine Assistentin Anita Leschkowski, die der Musikredakteur Marcus Imbsweiler in seinem Roman ermitteln lässt. Gehört der Schädel tatsächlich Richard Wagner? Warum passt die DNA des Fundstücks zwar zu einer Locke des Meisters aus dem Museum, nicht jedoch zu den Blutstropfen des Wagner-Sohns Siegfried? Und wer liegt eigentlich im Garten der Villa Wahnfried begraben?
Imbsweilers Beitrag zum Wagner-Jahr hat es wahrlich in sich. Denn was wie ein harmloser Krimi beginnt, wandelt sich schnell zu einer märchenhaft-fantastischen Reise durch Zeit und Raum. Im Katakomben-System unter Bayreuth treffen Haderer und Leschkowski auf einen merkwürdigen alten Mann namens Hans Neubahn, sie erleben in Begleitung von Giuseppe Verdi („hochgewachsen, mit wilder Mähne und grauem Vollbart“) den deutsch-französischen Krieg hautnah mit, bevor sie sich im Jahr 1857 in Zürich wiederfinden und Wagner persönlich begegnen, im Kreise dreier Damen, seiner Noch-Ehefrau Minna, seiner Geliebten Mathilde und seiner künftigen Gattin Cosima, „ein verhärmter Schlaks mit grotesk großer Nase“. Nein, respektvoll geht Imbsweiler nicht mit Wagner und seiner Entourage um, aber gerade diese Unverfrorenheit verleiht einigen Passagen einen gewissen heiteren Charme.
Einen Charme freilich, der es schwer hat angesichts der verwirrenden Handlungssprünge. Von Zürich geht es zum Dresdner Maiaufstand und mitten hinein in Wagners revolutionäre Verstrickungen, die wiederum eine obskure Geheimgesellschaft auf den Plan rufen, deren Name „Gral“ im Lauf der Erzählung mehrmals die Bedeutung wechselt. Erst nach Begegnungen mit Liszt und Bismarck und der Antwort auf die Frage, wer denn der ominöse „Geyer“ des Titels ist, können Haderer und Leschkows­ki das Rätsel lösen und werden vor die Entscheidung gestellt, den Wagner-Mythos zu zerstören oder auf eine Verhaftung der Schuldigen zu verzichten. All das ist durchsetzt mit Anspielungen und Hinweisen, für deren Verständnis eine genaue Kenntnis von Wagners Leben, Werk und Umfeld nötig ist. Der Walkürenritt wird zur Skalpell-Attacke, der Tristan-Akkord zum bloßen Schreibfehler, und zu allem Überfluss fügt Imbsweiler auch noch gänzlich handlungsfremde Kapitel ein, sogenannte „Variationen über den Mythos“, in dem etwa ein Dinosaurier die Bayreuther Innenstadt verwüstet oder ein junger Mann nach mythischer Tiefe im Sexualakt sucht.
Es ist ein ebenso bizarres wie ambitioniertes Werk, dem seine Ambitionen allerdings letztlich zum Verhängnis werden. Von einer „Erzähl-Collage“ spricht der Verlag, tatsächlich ähnelt der Text einem „Erzähl-
Labyrinth“, in dem man sich immer wieder zu verlaufen droht. Und die Moral von der Geschicht? Eine originelle Ausgangsidee ist eben nicht genug für einen wirklich guten Roman.
Irene Binal