Heister, Hanns-Werner (Hg.)

Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert

1945-1975

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber, Laaber 2005
erschienen in: das Orchester 04/2006 , Seite 86

Kaum je in der Geschichte der abendländischen Musik gab es so viele verschiedene, zum Teil entgegengesetzte Strömungen, wechselten sich „tonangebende“ Richtungen in so rascher Folge ab wie in den Jahren 1945 bis 1975. Diese drei Jahrzehnte sind es, die im dritten Band der bei Laaber herausgegebenen Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert behandelt werden. Für den Herausgeber des Bandes, Hanns-Werner Heister, verdient die im Buch dargestellte Phase der Musikgeschichte den Ehrentitel eines „Silbernen Zeitalters“ der Neuen Musik.
Das Lob sei gleich vorweg ausgesprochen: Es ist Heister sowie den verschiedenen Autoren gelungen, einen sehr fasslichen Überblick über die diversen kompositorischen Tendenzen zu bieten – und dies trotz zugegebener Einschränkungen, als da wären eine Konzentration auf das damals und zum Teil auch noch heute als avanciert und innovativ Geltende sowie auf eine „westeurozentristische Perspektive“. Dies wäre wohl zu bedauern, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass eine Jahrhundertgestalt wie Dutilleux nur am Rande erwähnt wird und die kompositorischen Entwicklungen in England – mit Ausnahme von Brittens War Requiem und Maxwell Davies’ Woldes Blis – im Wesentlichen außen vor bleiben.
Doch dem Vergessenen, Randständigen ist gleichwohl ein nicht geringer Prozentsatz des Bandes gewidmet – so finden sich viele Hinweise auf Komponisten der DDR, die zum großen Teil heute leider kaum noch erwähnt werden.
Eine griffige Gliederung des behandelten Zeitraums ist nicht einfach. Heister entschied sich für vier grob chronologisch angeordnete Großkapitel, innerhalb derer einzelne kompositorische Richtungen sowie für diese Richtungen typische Werke beschrieben sind. Ebenso erfahren kulturhistorische bzw. -politische Aspekte nähere Behandlungen – etwa die Festivalkultur, die Entwicklung der Musikkritik sowie die Rolle der Schallplatte. Ein einleitendes Kapitel widmet sich den „Umrissen einer historischen Phase“ und das Schlusskapitel stellt die Frage, ob und wie es mit der Moderne bzw. der Avantgarde weitergehen wird. Denn eines ist von Anfang klar: Trotz der gelegentlichen Bespiegelung traditionsverbundenen Komponierens (Britten, Hartmann, Eisler) liegt die Sympathie des Herausgebers und der meisten der Autoren bei den Errungenschaften der Avantgarde und nicht bei der diese ablösenden Postmoderne. Es wäre interessant zu wissen, wie viele der in diesem Buch als relevant eingestuften Richtungen in fünfzig Jahren noch eine Rolle spielen werden.
Die Kommensurabilität der einzelnen Texte wechselt naturgemäß von Autor zu Autor, ist aber insgesamt erfreulich hoch. Zum „Schmökern“ wie in einem Lexikon eignet sich das Buch nicht. Es empfiehlt sich, den Band mit Muße und Neugier durchzuarbeiten; die Wissbegier des Lesers wird nicht enttäuscht werden. Ein Kritikpunkt am Rande: Bei den Lebensdaten der Komponisten finden sich einige ebenso entschuldbare wie bedauerliche Fehler – so wurde Strawinsky nicht 1881, sondern 1882 geboren, das Geburtsjahr von Carl Ruggles ist 1876, nicht 1886, und Charles Mingus starb nicht 1970, sondern 1979.
Thomas Schulz