Riethmüller, Albrecht (Hg.)
Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1925–1945
Die Zeiten sind lange vorbei, wo sich die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Fortschritt und Regression, vertreten durch die Namen Arnold Schönberg und Igor Strawinsky, abzuspielen schien. Theodor W. Adorno legte in seiner 1949 erschienenen Philosophie der Neuen Musik diese erste Diagnose des musikalischen Zustands der zurückliegenden Dezennien vor, die mit der rigiden Verteilung der Prädikate gut und schlecht Folgen für den Gang des avantgardistischen Diskurses der kommenden Jahre hatte.
Jetzt, gut ein halbes Jahrhundert später, ist der Zeitraum zwischen 1920 und 1945 erneut sondiert worden: von Albrecht Riethmüller und Mitarbeitern des musikwissenschaftlichen Seminars der Freien Universität Berlin. Adornos binäres Deutungsmuster ist einer multiperspektivischen Betrachtung gewichen, bei welcher Schönberg und Strawinsky natürlich in dem einen oder anderen der neun Kapitel eine Rolle spielen. Aber das vielstimmige Konzert aus Film‑, Radio- und Tanzmusik, aus folkloristischen, politischen oder bruitistischen Klangprozessen ist von den Berliner Musikologen so weit aufgedröselt worden, dass die großen Namen eher als Solitäre zwischen anderen musikalischen Geltungssphären erscheinen.
Charakteristisch für die Veröffentlichung ist der Blick weit über die deutsch-österreichische Perspektive hinaus auf sämtliche Länder des europäischen und amerikanischen Kontinents. Ein horizontabschreitendes Vorlegen der unterschiedlichen musikalischen Tatbestände ist das Darstellungsziel und das Lob eines prä-diktatorialen Stilpluralismus die musikwissenschaftliche Erkenntnis.
Während die Innovationen musikalischer Techniken (Dodekafonie, Neo-Klassizismus, Synkretismus) und reproduktiver Medien (Film, Schallplatte, elektrische Spielinstrumente, Radio) in vielen monografischen Arbeiten bereits gut aufgearbeitet vorliegen, stellen die beiden von Friedrich Geiger verfassten Kapitel über die Musik im faschistischen Italien, im nationalsozialistischen Deutschland und in der stalinistischen UdSSR gewichtige Beiträge dar. Gut exponiert wird das verblendende Nicht-Verhältnis von idealistischem Kunstanspruch und technokratischer Massenvernichtung. Das innovative Potenzial der populistischen Medienkonglomerate in der ersten deutschen Event- und Konsumdiktatur bleibt allerdings unberücksichtigt.
Zwischen die Überblick gebenden, thematisch begründeten Kapitel sind drei Blöcke mit insgesamt 25 Werkbeschreibungen eingeschoben, die von Schönberg und Orff bis Gershwin und Britten ein breites Spektrum der notierten Musik dieses Zeitraums abdecken. Der Herausgeber gibt mit einer ausführlichen Einleitung und einem Ausklang: Die Stunde Null als musikgeschichtliche Größe einen etwas verschwommenen Rahmen und setzt diesem Handbuch der Musik des 20. Jahrhunderts einige predigerhafte Oberlichter auf.
Bernhard Uske