Camillo Schoenbaum

Geschichte der böhmischen Musik

Von den Anfängen bis in die Zeit der Romantik

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: ConBrio, Regensburg
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 62

Das Fazit zuerst: Das Buch ist eine gewaltige Fundgrube – und wohl auch konkurrenzlos. Denn nach den Worten des Herausgebers And­reas Wehrmeyer gibt es kein anderes Werk, das ein vergleichbares Gesamtbild von den mittelalterlichen geistlichen und weltlichen Liedern über die dramatische Zeit von Reformation und Gegenreformation bis hinein in die internationalen Verbindungen böhmischer Musiker und Komponisten in die „westliche“ Musikkultur in London und Paris zeichnet.
Freilich wird nur die Zeit bis etwa 1830 behandelt. Und die als Romantik periodisierte Epoche ist – gerade in Deutschland – verwirrend buntscheckig mit ihren revolutionären Anfängen und ihrem revolutionären Ende in Ästhetik und Form, kurz: in den Maximen der Moderne. Und noch eine zweite Tatsache sollten die möglichen Leser:innen wissen: Das Manuskript – die Grundlage des gedruckten Buchs – versammelt Daten aus der Zeit vor gut sechzig Jahren. Deswegen lässt es sich auch nur bedingt als Handbuch nutzen, obwohl es die vielen konzentriert kurzen Kapitel nahelegen.
Camillo Schoenbaum (1925–1981) war ein österreichischer Musikhistoriker, der sich in und seit seiner Dissertation im Wesentlichen mit der Musik Böhmens und Mährens beschäftigt hat. In der Einleitung zum vorliegenden Werk schrieb er: „In über tausend Jahren vollzog sich in Böhmen und Mähren jener Wandlungsprozess, der sich aus dem Zusammenwirken von slawischer Eigenart, deutscher Zuwanderung und westlicher Kultur ergab. Früher Anschluss an die westliche christliche Kirche und politische Abhängigkeit von westlichen Nachbarländern führten von Anfang an zur Übernahme westlicher Kulturgüter. Der andere wesentliche Grundzug der böhmischen Kulturgeschichte ist es jedoch, dass diese westlichen Einflüsse umgeschmolzen wurden.“ Ans Umschmelzen und die Geschichte der kriegsbedingt Vertriebenen auf allen Seiten erinnert auch der Umstand, dass das Buch in der „Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts“ erschienen ist. Welche Gegend ist mit „Böhmen“ eigentlich angesprochen? Es handelte sich um einen Teil des Habsburger Reichs, die sogenannten böhmischen Kronländer: Böhmen, Mähren und einen Teil von Schlesien. Die verschiedenen Ethnien, Ideologien und Leistungen spielt Schoenbaum in seiner Geschichte nun ausdrücklich nicht gegeneinander aus, denn er sieht sie von vornherein als einen einzigen Sinnzusammenhang.
Der Herausgeber empfiehlt das Buch allen gebildeten Musikfreund:innen. Anhand von 192 Notenbeispielen werden Lieder haarfein analysiert und in den fast 1200 Anmerkungen finden sich weiteres Material und weitere Deutungen. Wer das würdigen möchte, sollte besser nicht bei Null anfangen. Oder er stürzt sich einfach hinein in diese Fundgrube.

Kirsten Lindenau

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