Haffner, Herbert
Genie oder Scharlatan?
Das aufregende Leben des Leopold Stokowski
Erlauben Sie sich, erregt zu sein! Nein, ein Scharlatan war er nicht. Wer Schönbergs Violinkonzert und Klavierkonzert uraufführt, außerdem Charles Ives vierte Sinfonie zur ersten Komplettaufführung bringt und Strawinskys Sacre, Mahlers Achte und Bergs Wozzeck erstmals in den USA aufführt, steht über schnellen Urteilen der Zeitgenossen und der Nachwelt. An diesem Dirigenten schieden sich immer die Geister. Manche verlachten ihn wegen seiner oft skurrilen Einfälle und Eingriffe in die Partituren großer Komponisten. Andere verehrten ihn gerade wegen dieser persönlichen Interpretationen. Tatsache ist, dass Leopold Stokowski,1882 in London geboren und dort auch 95-jährig gestorben, einer der wichtigsten, originellsten und für die Musik seiner Zeit bedeutendsten Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts war.
Mit 18 hatte er ein Musikdiplom in der Tasche. Nach weiteren Studien dirigiert er 22-jährig im Theater, ein Jahr später wird er Organist in Manhattan. 1909 übernimmt er die Leitung des Cincinnati Symphony Orchestra. 1915 wird er amerikanischer Staatsbürger, verbringt die Sommer aber gerne in München. Ein Jahr später wird er Chef des Philadelphia Orchestra. Erlauben Sie sich, erregt zu sein!, rät er seinen Musikern und macht diesen Klangkörper zu einem der Big Five des Kontinents. Dies ist die Stradivari unter den Orchestern, lobt sogar Toscanini ohne über rein musikalische Dinge jemals einer Meinung mit Stokowski zu sein.
Die Polarisierung, der sich Stokowski zeit seines Lebens aussetzt, geht vor allem auf diesen Kontrahenten zurück: Arturo Toscanini. Dessen Neuerungen in der musikalischen Auffassung schließt sich Stokowski nie an. Für ihn bleibt der musikalische Interpret immer auch Poet, nie Vollstrecker eines Notentextes. Musik erklingen zu lassen heißt, sie nachzudichten. Das schließt Veränderungen mit ein. Der Komponist kennt ja mein Orchester nicht, war sein Argument. Keiner sonst wagte solche Eingriffe, Kürzungen oder Umarbeitungen an Meisterwerken.
Herbert Haffner folgt in seinem Stokowski-Buch nicht nur dem Lebensweg des umstrittenen Dirigenten. Er rollt zugleich die Geschichte der US-amerikanischen Musiklandschaft auf. Gegen den Musikgeschmack seiner Zeit stemmte Stokowski machtvoll sein Credo für die amerikanische Musik. Früh erkannte er das Potenzial von Schallplatte, Rundfunk und Film. Er war der Erste, der stereofone Aufnahmen machte oder akustische Nachrüstungen in Konzertsälen vornahm. Nicht zuletzt experimentierte er mit unorthodoxen Orchesteraufstellungen. Er hatte keine Scheu vor der Selbstinszenierung und der Breitenwirkung von Musik. Music For All Of Us ist nicht nur der Titel seines berühmten Buchs, sondern fixiert zugleich eine Art Lebensphilosophie.
Ob der Dirigent heute als Gegenpart zur Historischen Aufführungspraxis unserer Tage taugt, wie Haffner im Nachwort seines gut recherchierten, spannenden und lesenwerten Buchs meint, ist allerdings fraglich. Ist es doch erstaunlich, dass Stokowskis Aufnahme von Beethovens Eroica im Tempovergleich ausgerechnet mit einer neueren Aufnahme von Roger Norrington gleichzieht: Da zeigt sich, wie relativ solche Gegenüberstellungen sind.
Matthias Roth