Weiss, Harald

Gebet

für Streichquartett, Fragment aus dem Streichquartett "Stille Mauern"

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 89

Der Künstler Harald Weiss entzieht sich mit seinem vielseitigen Talent und seinen Tätigkeiten als Komponist, Perkussionist, Aktionskünstler, Autor zahlreicher Hörspiel- und Filmmusiken und akademischer Lehrer jedem Versuch, ihm in dem heute häufig so klar gegliederten Musikbetrieb einen festen Platz zuzuweisen. Auch als Komponist darf er als Grenzgänger bezeichnet werden, der sich nicht scheut, einen unzeitgemäßen Tonfall anzuschlagen.
Während viele Komponisten ihr künstlerisches Credo durch zunehmend komplexere Partituren zu realisieren suchen, setzt sich Harald Weiss in seinem Streichquartett Stille Mauern mit einer beeindruckenden Schlichtheit bewusst von dieser Mode ab. Die Originalfassung des Werks Stille Mauern für Streichquartett und Zuspielband aus dem Jahr 2003 gliedert sich in 15 Teile und dauert beinahe eine Stunde. Der Hörer nimmt teil an einer fließenden, meditativen Musik, die aus der Stille kommt und immer wieder in die Stille zurückkehrt. Obwohl Weiss darauf verzichtet, mit Patterns zu arbeiten, ist der Einfluss des minimalistischen Stils auf sein musikalisches Denken offensichtlich. Dabei verändert das langsame und leise Fließen der Musik unsere Wahrnehmung. Harald Weiss gelingt es mit seiner Musik, unsere Sensibilität für Dichte und Intensität der Klänge zu schärfen, und öffnet uns gleichzeitig das Ohr für das breite Spektrum von Klangfarben.
Das bei Schott veröffentlichte Gebet für Streichquartett ist ein „Fragment aus dem Streichquartett Stille Mauern“ und dauert etwa sieben Minuten. Die erhebliche Kürzung der Originalpartitur einschließlich einer vollständigen Streichung aller Teile mit Zuspielband verändert zweifellos den Gesamteindruck des Werks, ohne jedoch die Wirkung des Fragmentarischen hervorzurufen – hier scheint der gewählte Untertitel unabsichtlich doppeldeutig zu sein. Es ist vielmehr erstaunlich, wie der quasi religiöse, meditative Tonfall konsequent durchgehalten wird, ohne dabei in billige Sentimentalität oder gar Kitsch abzugleiteten. Tatsächlich vollbringt der Komponist das Kunststück, Intensität und Ausdrucksstärke der Musik ohne Abstriche durchzuhalten. Dabei dürfte ein flüchtiger Blick auf die Partitur über die tatsächlichen musikalischen Schwierigkeiten des Werks hinwegtäuschen. Doch wie bereits Gustav Mahler wusste, steht das Beste der Musik ohnehin nicht in den Noten.
Felix Wörner