Westhoff / Locatelli / Perganini / Lipinski / Ernst / Ysaye / Quiroga / Hindemith / Zito / Coates / Widmann

… für Violine solo

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Cavalli Records CCD 113
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 86

Alle Geiger beschäftigen sich intensiv mit den Bach’schen Solosonaten und -partiten, viele üben noch die eine oder andere Ysaÿe-Sonate und Paganini-Caprice, aber wer kennt sich im übrigen Repertoire für Solovioline ebenso gut aus wie etwa in der Konzertliteratur oder im Sonatenrepertoire für Violine und Klavier? Diesem reichen, vernachlässigten Genre widmet sich der Bamberger Konzertmeister Andreas Lucke. Auf seiner ersten CD präsentierte er bereits Musik von Bach, Ernst, Wieniawski, Kreisler, Barkauskas und Milstein sowie eine Komposition seines Vaters Gottfried (CCD 111, www.cavalli-records.de), auf seiner nun vorliegenden zweiten spielt er Werke des 17. Jahrhunderts bis hin zur Moderne.
Zu den wichtigsten Vorbildern für Bachs Solowerke gehören Johann Paul von Westhoffs Kompositionen, die stilistisch jedoch noch in der Sphäre der Epoche vor Corelli bleiben. Lucke spielt Westhoffs Suite Nr. 2 blitzsauber, etwas „historisch“ angehaucht, mit sparsamem Vibrato und arbeitet die Stimmführung in der Sarabande plastisch heraus. Wenig mehr als fünfzig Jahre trennen Westhoff und Locatelli, aber der Sprung in der Entwicklung der virtuosen Geigentechnik ist riesig: Locatellis Arpeggio-Capriccio Nr. 2, Harmonisches Labyrinth betitelt, zwingt die linke Hand zu extremen Griffen und Streckungen – hier wird er nur von seinem Landsmann Paganini übertroffen, dessen vierte Caprice ebenfalls auf der CD zu hören ist. Wer die Locatelli-Noten nicht zur Hand hat, kann übrigens das Faksimile der Erstausgabe auf dem CD-Cover mitlesen.
Der polnische Geigerkomponist und Konzertmeister der Dresdner Hofkapelle Karol Józef Lipi´nski, im 19. Jahrhundert vor allem durch sein Concert militaire bekannt, schrieb dankbare und wirkungsvolle Violinmusik. Seine Grande Caprice D-Dur, eine Doppelgriff- und Spiccato-Studie, wäre eine gute Zugabe für einen Soloabend. Extreme Fingerfertigkeit beweist Lucke in der vierten Etüde von Ernst, einer Legatoübung im Stratosphärenbereich des Metronoms. Die Aufnahmetechnik hätte hier vielleicht für ein wenig mehr Klarheit sorgen können.
Besonders dankbar ist man Lucke für fünf Erstaufnahmen. All diejenigen, die immer auf den Widmungsträger der letzten Ysaÿe-Solosonate (ebenfalls auf der CD), Manuel Quiroga, neugierig waren, werden hier fündig. Lucke liefert eine brillante Interpretation einer rhapsodischen Volksliedbearbeitung des spanischen Geigers. Von hier ist es nicht weit zum effektvollen Tango-Capricho des Argentiniers V. Zito, eines Freundes von Ruggiero Ricci. Hindemiths frühe Sonate op. 11/6, hier zum ersten Mal vollständig eingespielt, hat nur begrenzten Repertoirewert, denn anders als bei seinen späteren Werken wird die starke Anlehnung an Bach noch nicht genügend durch persönliche Stilelemente ausgeglichen. Unter den beiden zeitgenössischen Werken auf der CD bleibt die Solosonate von Gloria Coates, ein Auftragswerk, im Bereich der traditionellen Formen und Spieltechniken, während Jörg Widmanns Etüde in ihrer zerfaserten, aphoristischen Struktur raffinierte Farben und avantgardistische Klänge präsentiert.
Alle Geiger, die nach lohnenswertem Solorepertoire für Violine suchen, werden Andreas Lucke mit Freude auf seiner Entdeckungsreise durch diese unbekannte, an Schätzen reiche Welt folgen.
Martin Wulfhorst