Widmann, Jörg

Fünf Bruchstücke

für Klarinette und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2004
erschienen in: das Orchester 06/2005 , Seite 76

Nur wenige junge Komponisten haben mit zweiunddreißig Jahren eine so steile doppelgleisige Karriere vorzuweisen wie Jörg Widmann. Er hat bei Wolfgang Rihm studiert und ist nicht nur vielfacher Preisträger von Kompositionswettbewerben, u.a. erhielt er 2003 den begehrten Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Stiftung, sondern auch Professor für Klarinette an der Freiburger Musikhochschule. Sein Werkkatalog umfasst bereits ein breites Spektrum, das häufig auch sein Instrument einschließt.

Eines der frühesten Werke mit Klarinette sind seine Fünf Bruchstücke von 1997. Er hat sie selbst im gleichen Jahr zusammen mit dem Pianisten Moritz Eggert in München uraufgeführt. 1993 hat Widmann eine Fantasie für Klarinette solo geschrieben, Tränen der Musen für Violine, Klarinette und Klavier entstanden 1996, Nachtstück ist ein Trio für Violoncello, Klarinette und Klavier von 1998, mit Fieberphantasie hat er ein Werk für Streichquartett, Klavier und Klarinette betitelt, während die Polyphonen Schatten von 2001 für Viola, Klarinette und Orchestergruppen zu seiner Werkreihe Lichtstudien gehören.

In den Fünf Bruchstücken für A- und B-Klarinette und Klavier findet sich nahezu alles, was die Entwicklung der Spieltechnik am Ende des 20. Jahrhunderts erreicht hat. Diese Errungenschaften dienen Widmann dazu, eine Musik mit höchster Expressivität und feinsten Nuancierungen zu schreiben. Nur drei dynamisch ständig veränderte Klarinettentöne und Resonanzklänge im Klavier machen den Kern des ersten, äußerst langsamen Stücks aus. Geräuschhaftes – Klappenschlagen der Klarinette und mit Hilfe auf die Saiten gelegter CD-Hüllen präparierte Klavierklänge – gepaart mit virtuosen Lauffiguren dominieren in dem atemlosen Presto possibile überschriebenen zweiten Stück. Als „Musik der Stille“ könnte man das dritte Bruchstück beschreiben, in dem Widmann wieder mit extrem sparsamen Mitteln bis auf einen dramatisch hereinbrechenden ffff-Akkord das musikalische Geschehen an die Grenze des Hörbaren führt: dal niente … al niente, quasi niente treten als Vortragsbezeichnungen auf.

Der Kontrast zum nächsten Stück könnte kaum extremer sein. Hier scheint sich eine lang aufgestaute Energie zu befreien, ja geradezu in Wildheit auszuufern. Der gesamte Tonraum der Klarinette wird in extremen Sprüngen durchmessen. Klavier-Cluster in höchstmöglicher Geschwindigkeit verstärken den Ausdruck des Exaltierten in den wilden und entfesselten Figurationen der Klarinette. Für das letzte Stück bleibt nur noch die Rückkehr in ruhigere, mehr klanglich orientierte Gefilde, bevor die Musik mit resonierenden Klavierklängen erlischt, kombiniert mit dunklem Luftgeräusch der Klarinette.

Widmanns knapp acht Minuten dauernde Bruchstücke sind eine Musik der Extreme, voller Intensität und Gestaltungskraft, gepaart mit höchstem spieltechnischen Anspruch (diesen verwirklicht der Komponist selbst als Interpret auf der Wergo-CD 6555 2). Die Fünf Bruchstücke stellen am Ende des 20. Jahrhunderts das Pendant zu Alban Bergs genialer Komposition Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 vom Anfang des Jahrhunderts dar.

Heribert Haase