Imbsweiler, Marcus
Frontsignale
Komponieren in Zeiten des Krieges. Erzählungen
Wie reagieren Komponisten auf unmittelbaren Kontakt mit Krieg, Gewalt und Unrecht? Und was verraten ihre Werke darüber? Dass Musik nicht allein im Elfenbeinturm geschrieben wird, sondern immer auch die Umstände reflektiert, unter denen sie entsteht, ist eine Binsenweisheit. Kaum weniger trivial ist auch die umgekehrte Einsicht, dass die Trennlinie zwischen Kunst und Wirklichkeit mehr als unscharf ist: Die musikalische Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte zwischen tönender Biografie und mathematischer Struktur und gerade weil sie eben nicht exakt zu definieren ist, erscheint der Versuch einer literarischen Annäherung an das Thema auch keineswegs abwegig. Ist es nicht Privileg der Dichtung, das Nichtexistente zu beschreiben?, lässt der Heidelberger Autor und Musikredakteur Marcus Imbsweiler einen seiner Protagonisten fast programmatisch fragen.
Tatsächlich ist dies in erster Linie kein musikhistorisches, sondern ein literarisches Buch. Imbsweiler geht bei seinen vier Erzählungen bewusst nur von biografischen Randnotizen aus, die reichlich Spielraum für Spekulationen und Exkurse lassen: Eine polizeiliche Befragung Gustav Holsts zu seinem deutsch klingenden Namen; Haydns Schicksal während der französischen Besatzung; Schostakowitschs Beitrag zu einem Nationalhymnen-Wettbewerb; ein Verhör Schuberts nach der Verhaftung seines Freundes Johann Senn. Alle Fakten sind vorzüglich recherchiert, aber es geht nicht um die erzählerische Rekonstruktion dessen, was nicht überliefert ist, sondern um einen literarischen Diskurs über das Spannungsfeld zwischen ästhetischem Denken und politischer Realität.
Imbsweiler (der sowohl Musikwissenschaft studiert als auch Kleinstadtsatiren und Krimis verfasst hat) ist dies auf einem erstaunlich hohen Niveau gelungen. Die Erzählungen sind nicht nur fachlich versiert, sondern auch von bemerkenswerter sprachlicher Qualität und formaler Vielschichtigkeit. Ende des Sommers ist eine geradlinig erzählte Kurzgeschichte, in der der junge Konstabler Brown eine Ahnung davon bekommt, dass Musik nicht nur Zwecke erfüllen, sondern auch Herzen bewegen kann. Nelson, Kruschke und ich verbindet überraschend Momentaufnahmen eines alternden Genies mit dem bevorstehenden Untergang einer ganz anderen Epoche; Schwimmen beschwört als Zerrbild eines menschen- und kunstverachtenden Systems ein ganzes Pandämonium surrealer Figuren, Situationen und Schauplätze herauf; und in der abschließenden Criminalgeschichte fungiert das imaginäre Protokoll der Vernehmung Schuberts als Fixpunkt einer wie im Zeitraffer dahinfliegenden Chronologie des Tiroler Volksaufstands, in der sich das politische Klima im Österreich Metternichs atmosphärisch außerordentlich dicht widerspiegelt.
Dass es Imbsweiler inmitten dieser weitgesteckten Thematik auch immer wieder schafft, konkrete musikalische Sachverhalte wie beiläufig einzustreuen und in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, ist ein besonderer Clou des Buchs nicht nur für Musiker lesenswert.
Joachim Schwarz