Bartók, Béla
Four Pieces for Orchestra op. 12 / Concerto for Violin and Orchestra No. 1 / Music for Strings, Percussion and Celesta
Es wird gerne vergessen, dass Béla Bartók, einer der großen Repräsentanten der Moderne des 20. Jahrhunderts, noch ganz im Fahrwasser der Spätromantik zu komponieren begann. Zunächst beeindruckten ihn die sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss, dann geriet er zeitweilig in den Bann Claude Debussys. Ursächlich dafür, dass Bartók sich aus dieser Nachfolge löste und zu seinem unverwechselbaren eigenen Personalstil fand, wurde die Begegnung mit der ungarischen Bauernmusik ab 1905, die ihm neue Möglichkeiten der Tonalität und rhythmisch-metrischen Organisation eröffnete.
Die Vier Stücke op. 12 stehen an der Schwelle dieses Übergangs. Bezeichnend ist es, dass sie 1912 komponiert, aber erst 1921 für Orchester ausgearbeitet und 1922 uraufgeführt wurden. In der Zwischenzeit hatte sich Bartók, dessen neuere musikalischen Arbeiten in Budapest zunehmend auf Widerstand gestoßen waren, erst einmal vom öffentlichen Konzertleben zurückgezogen.
In der vorliegenden Aufnahme der Vier Stücke mit dem SWR Sinfonieorchester unter seinem langjährigen Leiter und heutigen ständigen Gastdirigenten Michael Gielen vernimmt man die stilistisch in die Vergangenheit weisenden Züge der Partituren ganz deutlich: vor allem Preludio und Intermezzo wirken noch ganz impressionistisch getönt, während Marcia funebre Anklänge an den Operneinakter Herzog Blaubarts Burg zeigt und das Scherzo schließlich in seiner rohen Kraft und maschinenhaften Getriebenheit bereits der Neuzeit angehört.
Noch länger der Öffentlichkeit vorenthalten blieb Bartóks erstes, von seiner Schwärmerei für die Geigerin Steffi Geyer inspiriertes Violinkonzert, das nach dem persönlichen Zerwürfnis zwischen Komponist und Geigerin in seiner originalen Gestalt unveröffentlicht blieb und erst posthum 1958 seine Uraufführung erlebte. Christian Ostertag als Solist gibt den beiden Sätzen ihr klar individuelles Profil: dem einleitenden Andante als zart-schwärmerischem Porträt Steffi Geyers und dem folgenden Allegro giocoso als höchst virtuoser Beschwörung ihrer künstlerischen Fähigkeiten.
Den reifen Bartók in seiner unverwechselbaren musikalischen Physiognomie repräsentiert auf der vorliegenden CD die 1937 von Paul Sacher mit seinem Basler Kammerorchester uraufgeführte Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Das Werk hat sich seither seine Frische bewahrt und keinerlei Patina angesetzt, wie auch die Neueinspielung unter Michael Gielen zeigt. Mitreißende Vitalität entfaltet das SWR Sinfonieorchester in den beiden schnellen Sätzen mit ihren zeitweiligen Folkloreanklängen. Die einleitende, hochartifizielle Spiegelfuge erklingt in ihren Stimmverläufen ganz transparent; den tiefsten Eindruck hinterlässt jedoch das Adagio, das mit seinen gefährlich tickenden Celestatönen über dem schwankenden Boden von Paukenglissandi wie ein Menetekel von der Gefährdung des Menschen im Zeitalter der Moderne zu künden scheint.
Gerhard Dietel