Schnittke, Alfred
Film Music Vol. II
Der Musiker, der sich mit Brotarbeiten über Wasser hält, dieweil er im stillen Kämmerlein an seiner eigentlichen Botschaft für die Nachwelt arbeitet: Ein arg romantisches Klischee ist diese Vorstellung von einer zwiegespaltenen Künstlerpersönlichkeit. Ein Stück weit passt sie freilich auf die Anfangsjahre des Komponisten Alfred Schnittke, der unter den kulturpolitischen Bedingungen in der Sowjetunion eine Art künstlerischen Spagat vollziehen musste. Während er sich privat mit den Anregungen der westlichen Avantgarde auseinander setzte, fand er sein berufliches Auskommen mit der Musik zu über 60 Filmen. Doch würde man Schnittke verkennen, wollte man diese Filmmusiken als ungeliebte Beschäftigung zur Sicherung des Lebensunterhalts abwerten. Eher ist davon auszugehen, dass Schnittkes stilprägende Idee zu einer Polystilistik, in der Alt und Neu nebeneinander Platz haben, Komplexes und Simples, Hochstehendes und Triviales, aus genau dieser Arbeitssituation heraus entstanden ist.
Höchst informativ ist es, wenn man in einer CD-Reihe, die beim Label Capriccio erscheint, eine Auswahl von Filmmusiken Alfred Schnittkes kennen lernen kann. Frank Strobel, der in den Einspielungen das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin leitet, war noch persönlich mit Alfred Schnittke bekannt und erhielt von diesem das Bearbeiterrecht für seine Filmkompositionen. Die zweite CD dieser auf weiteren Zuwachs angelegten Edition präsentiert Ausschnitte aus stilistisch recht unerschiedlichen Musiken zu vier zwischen 1968 und 1976 erschienenen Filmen. Zu Clowns und Kinder von Alexander Mitta und Der Walzer von Viktor Titow schrieb Schnittke sujetbezogen eine heitere, leichte, von direkten Zitaten und Stilkopien durchzogene, tradierte Tanzcharaktere fantasievoll aufgreifende Musik, nutzte aber auch die Möglichkeit, in einem Die Fabrik überschriebenen Abschnitt auf den Spuren von Mossolows früh-sowjetischer Eisengießerei avanciertere Kunstmittel zu benutzen.
Noch progressiver ist Schnittkes Musik zum Zeichentrickfilm Die Glasharmonika von Andrei Chrschanowski. Um das B-A-C-H-Motiv herum entwickelt der Komponist eine surrealistische Musik, die mit Collagetechniken und Verfremdungen arbeitet. Und auch im Kriegsfilm Der Aufstieg von Larissa Schepitko gibt es neben pathetischen Tönen einen Abschnitt aus fast geräuschhaft geschichteten Klangflächen.
Wohin diese Voraussetzungen später stilistisch geführt haben, lässt sich in Schnittkes Klaviertrio hören, das auf einer anderen CD-Neuveröffentlichung zusammen mit den beiden Klaviertrios von Mauricio Kagel durch das Liszt-Trio aus Weimar eingespielt wurde. Verblüffend schlicht und geradezu nostalgisch klingt auf weiten Strecken dieses Klaviertrio von 1992 (eine Umarbeitung von Schnittkes 1985 entstandenem Streichtrio). Vergangene Schönheit erscheint als Reminiszenz, doch haben sich in sie dissonante Töne, querstehende Harmonien und falsche Progressionen wie eine Säure hineingefressen. Der autobiografische Anlass der Komposition ist bekannt: Sie ist Rückerinnerung an Schnittkes schwere Herzkrankheit, die ihn zwischen Tod und Leben schweben ließ. Das musikalische Motto, mit dem das Werk anhebt, erweist sich bei genauem Hinhören als verfremdetes Zitat, nämlich als melodisch abgeändertes, in Moll versetztes Happy Birthday to you: Ausdruck der Dankbarkeit für die gestundete Zeit an der Schwelle des Todes.
Als Bruder im Geiste und doch mit anderen Akzenten näherte sich Mauricio Kagel in seinen beiden Klaviertrios in leiser Ehrfurcht der Gattung. In beiden Werken werden vielfältigere und raffiniertere klangliche und spieltechnische Mittel eingesetzt als in Schnittkes Werk, und mag auch Kagels Musiksprache aus dem Fundus des 19. Jahrhunderts zitieren, so ist doch ihre Syntax von heute. Nicht zuletzt hebt sich auch die Ästhetik beider Komponisten voneinander ab: Nicht wehmütig klingen die Erinnerungsreste bei Kagel, sondern eher wie Klopfzeichen von Poltergeistern, die aus der Vergangenheit ins Jetzt herüberspuken.
Gerhard Dietel