Peter Gülke
Felix Mendelssohn Bartholdy
Der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut
Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke einer der ganz wenigen, die Praxis und Wissenschaft auf gleichermaßen ausgezeichnetem Niveau betrieben und betreiben deckt mit seinen Publikationen ein breites Spektrum an Themen ab, das vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht. Ein, wenn nicht der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen und editorischen Arbeit ist die Romantik. Seine Ausgabe und Einspielung der späten Schubert-Symphonienfragmente ist ebenso eine epochale Leistung wie sein Buch Schubert und seine Zeit in der Monografien-Reihe im Laaber-Verlag über große Komponisten.
und seine Zeit, der hierbei vorgegebene Titel ist bei Gülke fast immer Programm, denn so genau und differenziert seine Analysen der Notentexte stets sind, sein Blick ist in jedem Fall geweitet auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Musik entsteht, und auch auf die persönliche Verfassung ihrer Schöpfer.
Das gilt auch für das neue Buch Peter Gülkes, das eben auch einem Romantiker gewidmet ist: Felix Mendelssohn Bartholdy. Und das Wort Zeit als historischer Begriff taucht auch hier im Untertitel auf: Der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut. Der Satz stammt von Robert Schumann und lautet komplett: Er ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt. Der Untertitel mit dem absichtlich verkürzten Schumann-Zitat ist sehr treffend für die Grundaussage des Buchs. Gülke begibt sich auf die Suche nach den Widersprüchen, salopp gesagt den Widerhaken in der Musik Mendelssohns und er thematisiert, ja problematisiert viele Aspekte aus dem Leben des vermeintlichen Götterlieblings und Wunderkinds. Insbesondere Mendelssohn als Jude, der zum Protestantismus konvertiert ist und immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, steht im Zentrum zahlreicher Überlegungen.
In seinen tief ins Detail gehenden Analysen einzelner Werke Mendelssohns entdeckt Gülke viele Momente, in denen unter einer vermeintlich vollendeten und gefälligen Oberfläche Brüche und mehr erahnte als bewusst gemachte Katastrophen erkennbar sind.
Und darin liegt denn auch der große Wert des Buchs: Es wirft einen neuen und substanziellen Blick auf einen Komponisten, der erst recht nach seiner Verfemung in der NS-Zeit wie kaum ein anderer mit zweifelhaften Klischees bedacht wurde und noch immer nicht in seiner wahren Bedeutung erkannt und durchschaut ist. Beim Versuch, in Mendelssohn Musik möglichst tief hineinzuhören, riskieren wir, ihn anders zu verstehen, als er verstanden sein wollte, das ist der letzte Satz von Gülkes Text. Eine durchaus verstörende Aussage, aber so ist das ganze Buch. Verstörend, aber in einem höchst positiven Sinn, denn der Band wirft wichtige Fragen auf und bietet spannende Ansätze zu einer angemessenen Deutung des Komponisten. Mehr Mendelssohn: Dazu liefert Gülke einen gewichtigen Beitrag.
Karl Georg Berg


