Otten, Jürgen

Fazil Say

Pianist – Komponist – Weltbürger

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2011
erschienen in: das Orchester 01/2012 , Seite 60

Wenn das abgegriffene Neuwort „Ausnahmekünstler“ auf einen Musiker wirklich zutrifft, dann auf den Türken Fazil Say. Seit Sabine Meyer den Länderschwerpunkt Türkei des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2011 mit seinem eigens hierfür geschriebenen Klarinettenkonzert Khayyam eröffnete (vgl. das Orchester 10/2011, S. 50), weiß man auch im hohen Nor­den, warum ihn die Bremer, Dortmunder und Berliner als „Artist in Residence“ schätzen. Dem Violinkonzert 1001 Nächte im Harem, das er 2007 seiner „musikalischen Ehefrau“ Patricia Kopatchinskaja widmete, inhalts­ästhetisch verwandt, erzählt es vom Leben, Lieben und Leiden des persischen Poeten, Astronomen und Philosophen Khajjam (1048-1131). Obwohl Jürgen Otten, der 2009 im gleichen Verlag Die großen Pianisten der Gegenwart würdigte, sein mosaikartiges Künstlerporträt vor dem Stapellauf des Klarinettenkonzerts abschloss, weist er im Kapitel „Literaturvertonungen“ schon auf den titelgebenden (von Goethe bewunderten) Dichter hin.
Von dem Berliner Komponisten Aribert Reimann 1986 in Ankara entdeckt und von dessen Lieblingspianisten David Levine an der Robert-Schu­mann-Hochschule in Düsseldorf zum Konzertexamen geleitet, wirkte der 1970 in Ankara geborene Pianist und Komponist in den frühen 1990er Jah­ren als Dozent für Kammermusik an der Berliner Hochschule der Küns­te. Nachdem ihn der Furor des Konzertierens und Improvisierens über alle fünf Kontinente getrieben hatte, bot ihm der Intendant des Dortmunder Konzerthauses 2005 bis 2010 daselbst einen Ankerplatz. Einige der triftigsten Deutungen seines rastlosen Künstlertums finden sich denn auch in einem Interview, das der Autor mit Benedikt Stampa führte und in seine Monografie aufnahm, die streckenweise einem Schwarmbrief gleicht. Fazil Say lasse die Musik, die in ihm sei, ungefiltert heraus, heißt es da: „wie ein Windsturm, der durch ihn hindurchfegt und den er mit einer Wildheit über sich und uns ergehen lässt“, die gefangen nehme. Auch wenn die Archaik, ja gelegentliche „Rotzigkeit“ seines Spiels das Publikum spalte. Ein paar Seiten weiter fällt das Schlüsselwort, das wie ein Schatten durch Ottens Buch geistert: Einsamkeit. „Fazil ist ein sehr einsamer Mensch, der an vielen Dingen leidet, nicht zuletzt an sich selbst.“ Und unter seinem Land. Gerade weil er ein überzeugter Türke sei.
Ironie der politischen Wirklichkeit: Die Symphonie, in welcher er seine Heimatliebe emphatisch bekennt (weshalb Stampa ihr den Titel Istanbul-Symphonie aufprägte) – sie kam 2010 nicht am Bosporus, sondern in Dortmund zur Welt. Und das, obwohl Istanbul in eben diesem Jahr als gut betuchte Europäische Kulturhauptstadt brillierte.
Aufschlussreicher noch ist ein Gespräch, das Otten mit dem Musiker selbst führte, ausgerichtet auf die gegenwärtigen Daseinsbedingungen des Künstlers: in der Türkei, in Europa, in der Welt. Kultur und Merkantilismus störten einander, findet Say. Ein Musiker müsse „in einer Art Parallelwelt“ leben, um „das kosmische Potenzial von Musik zu entdecken und zu erfahren“. Dazu passt, dass es ihm mittlerweile „gleichwertig“ erscheint, ob er in Oldenburg, Mexico City, Tel Aviv oder Berlin auftritt. „Ich muss gut sein, nicht der Ort.“ Chapeau!
Lutz Lesle