Tüür, Erkki-Sven
Fata morgana
für Violine, Violoncello und Klavier
Die etwa zwölfminütige Klaviertrio-Komposition des Esten Erkki-Sven Tüür entstand 2003 als Auftragswerk des norwegischen Grieg-Trios. Der Verfasser, in den 1980er Jahren Leiter des Rockmusik-Kammerensembles In Spe, heute freischaffender Komponist in Tallinn, liebt erklärtermaßen Grenzgänge zwischen so genannten E- und U-Musik-Stilen, er gibt dem Minimalismus, improvisatorischen und rockigen Ansätzen in seinen Werken großen Spielraum. Und er setzt, wie schon an manchen Werktiteln abzulesen, die Fantasiebereiche von Traum und Vision gern in Musik um.
Tüürs einsätzige Fata morgana entfaltet über weite Strecken das gesamte Lagenspektrum der drei Instrumente. Kernimpuls ist dabei immer wieder eine aus dem tiefsten C des Klaviers entspringende Pseudo-Naturtonreihe, die durch zahlreiche Alterationen vielfarbig changiert; Cello und Violine assistieren mit flirrenden, minimalistisch veränderten Arpeggien.
Zur Mitte hin tritt die Klanglichkeit mehr und mehr zugunsten einer erregt-synkopisierten Rhythmik zurück. Die polyrhythmischen Komplikationen zwischen beiden Händen des Klaviers und den beiden Streichern bleiben dabei immer im Rahmen des auf sicherer metrischer Basis Nachvollziehbaren. Cello und Violine bewegen sich meist distant voneinander in ihren angestammten tiefen bzw. hohen Registern.
In Takt 217 schwingt Tüür reprisenartig in die Anfangsstrukturen zurück und lässt das Stück allmählich in zartestem pianissimo verdämmern. Dabei muss der Pianist in den letzten Takten die tiefsten Klaviersaiten mit weichen Paukenschlägeln bedienen, die Geige tremoliert konstant in höchster Lage, und das Cello lässt sein Terztremolo glissandoartig schweifen.
Die bogenförmige formale Anlage, aber auch die Vermeidung eigentlich melodischer Strukturen durch Arpeggien, sequenzartiges Kreisen, Trillerfiguren sowie rasche Tonleitern, die sich als nach oben chromatisch verengter Ausschnitt einer Naturtonreihe gerieren all diese Elemente vermitteln auf überzeugende Weise die intendierte Aura des Nicht-Greifbaren, Schemenhaften. Vor allem in der Organisation der Übergänge vom Klanglichen ins Rhythmische und zurück beweist der 46-jährige Komponist große Meisterschaft.
Eine erfreuliche Bereicherung des Konzertrepertoires!
Rainer Klaas