Reininghaus, Frieder / Katja Schneider (Hg.)
Experimentelles Musik- und Tanztheater
Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert
Musiktheater, das sind für den Berliner Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker zunächst Partituren. In ihnen finden sich Anweisungen zum Musizieren und Singen und zwar nicht allein als virtuose Herausforderung, sondern als theatrale und somit soziale Aktion, die Darsteller wie Dargestellte bestimmt und charakterisiert. Oper ernst genommen als Form trägt zudem manchen Widersinn in sich: Sie birgt sowohl Realität als auch Illusionismus, sie befördert Zerstreuung wie Sehnsucht, sie ist ein Podium für Kritik und Utopie.
Rienäckers neue Publikation Musiktheater im Experiment verlangt, auf Entdeckungsreise zu gehen dazu laden 25 Notate, Vorträge und Beiträge quer durch die Musikgeschichte ohne Umschweife ein. Auffällig ist der Gestus des Fragens; der Hochschullehrer und Dramaturg fragt nach der Gesellschaftlichkeit musikalischer Formen, nach sozialen Komponenten des Singens, nach unabgegoltener sozialer Erfahrung, die Opernwerken und -figuren eingeschrieben ist. Diesen Fragen erwachsen aufregende, provokante Lesarten vermeintlich gut bekannter Literatur. Wagners Meistersinger, Tschaikowskys Pique Dame, Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán und andere erschließen sich so als Teil eines Diskurses über Gesellschaft, Kunst und Politik. Sprache und Denkwelt des Autors machen die Lektüre bestürzend und erhellend zugleich.
Lesenswert sind auch Diskussionsbeiträge zur Nachkriegsoper beispielsweise die analytische Annäherung an Boris Blachers Zwischenfall bei einer Notlandung. Neue kompositorische Formen und Mittel, so plädiert Rienäcker hier, müssen die Möglichkeit neuer sozialer Dialoge ergeben. Damit ist der Schüler Georg Kneplers bei Brecht, dessen Beharren auf einem Theater der sozialen Erkenntnis sich durch eine Vielzahl von Texten zieht. Bert Brecht, Paul Dessau und Ruth Berghaus zählt Rienäcker zu den Initiatoren eines Theaters, das sich im Zwiespalt von DDR-Wirklichkeit und Kaltem Krieg ästhetisch innovativ und sozial relevant zu formulieren verstand. DDR-Erfahrung ist auch der Reibepunkt der Biografie des Verfassers. Das Scheitern des Staatssozialismus ist für ihn Anlass, bislang Gedachtes kritisch zu prüfen; keinesfalls ist er zur Preisgabe bisherigen kritischen Denkens bereit. Ob sein marxistischer Zugang ein geeigneter ist, um sich Maria Callas zu nähern, sei hier offen gelassen. Der Auseinandersetzung mit aktuellen Theater-Versuchen über Walter Benjamin und damit dem experimentellen Musiktheater an sich vermittelt er so neue Impulse.
Einer Publikation mit ähnlichem Titel kann man dies nicht attestieren. Der von Frieder Reininghaus und Katja Schneider herausgegebene Band 7 der Reihe Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert beschäftigt sich mit dem experimentellen Musik- und Tanztheater ab 1900. Anders als bei Rienäcker gilt das Moment des Experimentierens nicht der Erschließung, sondern lediglich der Rubrizierung des Materials. In zwölf Kapiteln spannt sich der Bogen von den Tanzpionierinnen Isadora Duncan und Loïe Fuller über das Theater Strawinskys, Schönbergs und Schostakowitschs bis zu heutigen Experimenten von Wanda Golonka, Heiner Goebbels, Robert Ashley und Xavier Le Roy.
Das Bemerkenswerteste an der Publikation ist die Sammlung. Einige der 45 Autoren legen ihren Beiträgen das spontane, subjektive Theatererlebnis zugrunde je näher die Gegenwart rückt, umso stärker wird das journalistische Moment. Im Tanztheater so die Münchner Tanzwissenschaftlerin Katja Schneider ist dies von Belang; seine Produkte sind flüchtig und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind kaum dokumentiert. Auch der nordrhein-westfälische Musikologe Frieder Reininghaus, hier verantwortlich für Musiktheater und Oper, hat trotz eigener Dominanz eine gewisse Vielfalt feuilletonistischer Stimmen initiiert.
Tanz und Oper so wie hier nebeneinander zu stellen, ist publizistisch ohne Zweifel ein Novum; beider Berührungs- und Abgrenzungspunkte geraten allerdings kaum ins Visier. Vertiefte Werkanalysen, Beschreibungen sich verändernder Produktionsbedingungen, kontroverse Diskussionen politisch-sozialer Aspekte von Avantgarde sind rar. Der Avantgarde-Begriff selbst wird nie infrage gestellt die Publikation untermauert zu ihrem Nachteil die ohnehin obligate westeuropäische Sicht und schließt osteuropäische, asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Beiträge fast vollkommen aus.
Frank Kämpfer