Chen, Xiaoyong

Evapora

für Flöte, Oboe (oder Klarinette), Klavier, Violine und Violoncello, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2004
erschienen in: das Orchester 01/2005 , Seite 82

Mit einem lang nachklingenden Quintklang B-f im Klavier, zu dem nach geraumer Zeit das Kontra-B auf der tiefergestimmten C-Saite des Violoncellos hinzutritt, wird das Ensemblestück Evapora des knapp fünfzigjährigen chinesischen Komponisten Xiaoyong Chen eröffnet. Dieser reine Klang wird langsam durch Rhythmisierungen und das Hinzutreten von nur drei weiteren Tönen verändert. Jede klangliche Nuance ist auf Grund der sparsamen Mittel – die Oboe wird im ersten Satz noch nicht eingesetzt – wahrnehmbar. Der permanent pedalisierte Klavierklang, dessen Einzeltöne nach dem Anschlag mit der Hand hinter dem Steg unmittelbar abgedämpft werden müssen, lässt vielfältige Resonanzen zu. Spannung entsteht durch das genau dosierte Hinzutreten der das Quintintervall umgebenden Nachbartöne. Die Veränderung, die der Ausgangsklang erfahren hat, zeigt sich am Ende: Der Schlussklang ist B-f-h’.
Große Bewegtheit kennzeichnet den schnellen zweiten Satz, der einen durchgängigen Bewegungsfluss in einem zunächst sehr engen mittleren Tonraum erzeugt. Sechzehnteltremoli in Klavier, Flöte und Oboe lösen sich nahtlos ab, als weitere rhythmische Schicht treten Achteltriolen hinzu. Der Ambitus weitet sich dann durch chromatisch ansteigende Tonleitern in der Violine, die auf alle anderen Instrumente verteilt die Oberhand gewinnen. Ein weiteres kompositorisches Element sind Tonrepetitionen bzw. Liegetöne, die ins Nichts verschwinden. In diesem Satz lässt sich die Bedeutung des Titels Evapora, „Verdunstung“, am unmittelbarsten nachvollziehen.
Der dritte Satz weitet den Klangraum weiter nach oben aus, ohne jedoch extreme Höhen zu verlangen. Mit einem natürlich angeschlagenen Klavierton a beginnt er zunächst noch sparsamer als der erste Satz. Dann setzt eine rhythmische und dynamische Gestaltung des Tons ein, wieder tritt die Oktave hinzu, ehe dann der Ton b im kleinen Sekundabstand für Belebung sorgt. Das Klavier bildet vom Septintervall ausgehende Klangfelder aus, die von den Melodieinstrumenten durch Haltetöne ergänzt werden, bis sich motivische Gestalten in Flöte und Oboe herausbilden, die aber so ineinander greifen, dass sich die Konturen vermischen. Durch zunehmende rhythmische Differenzierung bilden sich zarte Klangwolken, die sich am Ende überraschend schnell auflösen.
Chen führt den Hörer auf Elementares zurück, verwandelt dies in kleinen Schritten und macht so ein bewusstes Wahrnehmen seines Komponierens möglich. Der Klang als Ergebnis, hierin seinem Lehrer György Ligeti nicht unähnlich, ist ihm in Evapora wichtiger als die Individualität der einzelnen Instrumente.
Durch die sich selbst auferlegte Beschränkung im Material ist das ca. zwölfminütige Stück auch für Ensembles spielbar, die nicht ausgewiesene Spezialisten für neue Musik sind.
Heribert Haase