Prokofjew, Sergej
Eugen Onegin / Pique Dame
Das Jahr 1936 ist für die sowjetische Musikgeschichte ein einschneidendes: In der Prawda erschien der Artikel Chaos und Musik, in dem Schostakowitschs Oper Lady Macbeth Formalismus vorgeworfen wurde. Prokofjew, der sich am Aufbau der sowjetischen Musik leidenschaftlich beteiligte, wurde im selben Jahr ebenfalls Opfer der Zensur, allerdings nur indirekt. Die für das Puschkin-Jubiläum komponierten Musiken zum Schauspiel Eugen Onegin sowie die Filmmusik zu Pique Dame verblieben im Archiv des Komponisten. Den Grund dafür schildert Igor Kazenin im äußerst interessanten Booklet, zumindest hinsichtlich der historischen Umstände der szenischen Projektion von Puschkins Onegin.
An der Musik kann es kaum gelegen haben, dass die Produktionen nicht auf- und ausgeführt wurden, denn sie dürften dem Ideal eines sozialistischen Realismus sehr entsprochen haben. Prokofjew scheint den Musiken einige Bedeutung beigemessen zu haben, denn er berücksichtigte sie mit Opuszahlen (op. 70 und 71).
Die Onegin-Komposition war sang- und klanglos vom Erdboden verschwunden. Sie wurde an der russischen Klassik gemessen und galt als vermessen. Dabei hatte Prokofjew gerade Passagen der Dichtung vertont, die bei Tschaikowsky nicht vorkommen. So hebt die Komposition mit der Szene Lenski am Grab von Larin an und entfaltet eine wunderschöne Melodie, die reizvoll zwischen geistlichem Gesang, Volksmelodie und origineller Intervallik changiert und das Gefühl von Melancholie und Besinnlichem exemplarisch umsetzt. Zuerst in der Oboe, dann im Fagott und anschließend in den tiefen Streichern intoniert, entfaltet sich eine äußerst intime Farbenpracht, die noch durch die Wiederaufnahme in der Gesangsstimme intensiviert wird. Kongenial verweben sich die ausführenden Musiker in die plastischen Begleitmuster einer verhalten quellenden Bewegung. Eher übertrieben wirken dagegen die expressiven Steicherpassagen, die die ohnehin gefühlvolle Musik noch überzuckern. Ähnliches gilt für die Rezitation von Tatjanas Brief, worin zwar die russische Sprache klangvoll strömt, der Tonfall jedoch von unverhältnismäßiger Infantilität geziert wird. Der Klavierauszug in der Bearbeitung von E. Downes vermag klanglich zu überzeugen. Unbefriedigend an der Produktion ist, dass die Texte nicht original in Russisch abgedruckt sind.
Die Onegin-Musik wurde von Prokofjew für viele andere Werke ausgeschlachtet, u.a. für die Opern Krieg und Frieden und Die Verlobung im Kloster sowie für Aschenputtel (Ähnliches gilt auch für die Pique Dame, deren Lisa-Thema in der achten Klaviersonate und in der fünften Sinfonie wiederkehrt). Und tatsächlich besteht der spezielle Reiz der Komposition(en) neben ihrer bestechenden Schönheit in der Entdeckung eines neuen Standorts, als betrachte man Prokofjews Garten aus einer noch unerschlossenen Perspektive. Hier klingen auch bereits beendete Kompositionen nach, wie etwa Romeo und Julia von 1935, das zu diesem Zeitpunkt noch ein völliges Schattendasein führte.
Steffen Schmidt