Cage, John

Etudes Boreales/Harmonies/10’40.3”

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6718 2
erschienen in: das Orchester 04/2011 , Seite 75

Noch Jahre nach dem Schaffen des radikal-erneuernden Komponisten drängen sich Probleme auf, wenn man eine neue CD mit Einspielungen von Werken John Cages in den Händen hält: Ist es überhaupt möglich, diese Musik aufzunehmen? Schließlich beruht sie auf ihrer Performance, also darauf, dass Musiker und Hörer in einem gemeinsamen Klangraum Zeit miteinander verbringen und die Musik somit in ihrer Spontanität erfahren. Und selbst wenn man sich mit der Mediatisierung des Unmittelbaren zufrieden gegeben hat, bleibt offen, wie man sich z.B. zu dem eigenem Klangraum verhält, in dem Autos vor dem Fenster entlangfahren und der Nachbar im dritten Stock hustet. Trotz dieser Fragen, die jede Cage-CD erst einmal in eine Konjunk­tion setzen, ist es schön zu sehen, dass es Labels wie Wergo gibt, die sich der hochwertigen Aufnahme zeitgenössischer und Musik des späten 20. Jahrhunderts widmen.
Die drei aufgenommenen Stücke sind aus komplexen Philosophien heraus komponiert, die im Booklet von Hanno Ehrler präzise dargelegt werden. Der Zufall spielt in allen Werken eine tragende Rolle. So hat Cage die Etudes Boreales von einer Sternkarte der nördlichen Hemisphäre abgeleitet und die Abstände der Himmelskörper direkt auf die Saiten des Cellos und den Klangkörper des Klaviers übertragen. Die Möglichkeit musikalischer Logik im traditionellen Sinn wird damit von Anfang an unterlaufen. Neben der Intention des Komponisten wird auch die des Musikers nicht zugelassen, indem Cage sehr genaue Angaben zur Spielweise gibt.
Dass Friedrich Gauwerky und Mark Knoop doch musikalische Bögen hören lassen, kann man der Interpretation also fast schon als Manko anrechnen. Das klangliche Gespür der Interpreten ist jedoch ausgesprochen sensibel. Verständnis postmoderner Musikphilosophie kommt hier zusammen mit großer virtuoser Beherrschung der Instrumente – und diese wird ganz besonders dem Cellisten abverlangt. Das Stück blickt auf eine Geschichte zurück, in der Aufführungen von höchstrangigen Cellisten abgesagt wurden, da sie die Etudes als unspielbar erklärten. Cage bzw. die Sternkarte verlangt Intervallsprünge über mehrere Oktaven außerhalb des diato­nischen Systems ohne Zuhilfenahme von Vibrato. Gauwerky glänzt in seiner Interpretation mit hervorragender Technik und großartiger Präzision. Die Hälfte der acht Etudes Boreales werden solo am perkussiv gespielten Klavier vorgetragen. Mark Knoops Interpretation ist sehr sensibel in Klang und Rhythmus. Dieser Teil der Etüden ist in seiner Ziellosigkeit und klanglichen Vitalität ein besonderes Fundstück der Aufnahme.
Das Zentrum der symmetrisch aufgebauten CD ist 10’40.3”, ein Teil einer von Cages Time-length-Kompositionen. Friedrich Gauwerky reizt die klanglichen Grenzen des Cellos hier so weit aus, dass man das Instrument oftmals nur schwer wiedererkennt.
Die Harmonies machen ihrem Titel alle Ehre und sind tonal komponiert. Durch den Einsatz von Pausen werden sie harsch auseinandergerissen und der Hörer wird angeregt, auch in der Abwesenheit von Tönen (bzw. von kompositorischer Intentionalität) die Musik weiterzuhören und so selbst zum Autor zu werden.
Vera Salm