Mozart, Wolfgang Amadeus

Essential Symphonies Vol. III / Essential Symphonies Vol. IV

No. 8/Posthorn/No. 40 / Nos. 22 und 33/No. 38 Prague

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler CD 93.213 und 93.214
erschienen in: das Orchester 07-08/2008 , Seite 68

„Historische Aufführungspraxis“ hatte auch immer einen experimentellen Charakter. Noch in den 1980ern kam es vor allem darauf an, die alten Instrumente wieder so zu gebrauchen, wie es etwa im 17. und 18. Jahrhundert Usus war. Dann versuchten „moderne“ Musiker, sich „alte“ Spielweisen anzugewöhnen – das war in den 1990ern. Roger Norrington tat immer beides: war Experte des historischen Kontexts und experimentierfreudiger Zeitgenosse. Was er, als einer der Urväter historisch informierter Musizierpraxis, in den vergangenen zehn Jahren als Chef des RSO Stuttgart – eines „modernen“ Klangkörpers, dem alle Traditionen anhängen, die ein solches Orchester quasi naturgemäß mit sich herumschleppt (und die es ja durchaus auszeichnen) – in puncto „Glaubwürdigkeit“ bei Mozart etwa erarbeitet hat, hätte noch in den 1990ern kaum jemand für möglich gehalten.
Heute zählt das RSO aus dem Schwäbischen zu den führenden Orchestern, die auf modernem Instrumentarium auch die frühen Klassiker relativ authentisch wiedergeben können. Freilich mit den wenigen Abstrichen, die das Instrumentarium erzwingt (die nicht mögliche historische Intonation und Temperatur beispielsweise). Dafür kann man von diesem Orchester gelegentlich auch einen „historisch“ angehauchten Mahler hören.
Die aktuelle CD-Neuerscheinung von sechs Mozart-Sinfonien zeigt Norrington und seine Musiker auf einem gänzlich neuen Stand der Experimentierfreude. Hier geht es nicht nur darum, Artikulation, Tonerzeugung oder Tempi nach Maßgabe der Forschung zu realisieren. Norrington ging jetzt noch einen Schritt weiter, indem er bei diesen Konzertmitschnitten die historisch verbürgte Aufführungssituation nachstellte. Nicht nur die – kleine – Größe des Orchesters (bei frühen Sinfonien besteht es aus gerade einmal 18 Musikern) und die zeittypische Methode, es bei entsprechenden Anlässen, wie sie Mozart in Mannheim, Paris oder Wien kennen lernte, einfach zu verdoppeln (mit bis zu 24 Violinen und 16 Holzbläsern), gingen in diese Produktion ein. Auch die verbürgte Praxis der damaligen Zeit, Piano-Stellen bei großem Orchester nur von der Hälfte der Musiker spielen zu lassen, wurde hier konsequent realisiert. Darüber hinaus wurde das Publikum, wie damals üblich, um die Musiker herum gruppiert, und die Mittagskonzerte wurden auch nur mit einer Probe am Vortag und einer Durchlaufprobe direkt vor dem Konzert gespielt. Mehr Aufwand wurde zu Mozarts Zeit auch nicht gemacht!
Diese Aufnahmen haben also schon durch diese Rahmenbedingungen so etwas wie eine ganz besondere Aura. Was musikalisch verblüfft, ist die absolute Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, mit der hier musiziert wird. Die Dynamik erhält eine ganz neue Dimension, und auch die sportlichen Tempi der Ecksätze münden nie in Verkrampfungen. Hier wird nicht auf Teufel komm raus Neues geschaffen nur um eines Effektes willen: Es entsteht vollkommen unspektakulär aus sich selbst heraus. Dabei haben die RSO-Musiker unter Norrington ganz nebenbei mit ihrer über Jahre erarbeiteten Pflege auch ein Terrain zurückerobert, das einige schon fast verloren glaubten für das moderne Standard-Orchester. Und sie setzen damit Maßstäbe für künftige Generationen.
Matthias Roth

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