Sauter, Ernest

Essai sur l’accord prométhéen

für Viola und Streichorchester

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Kunzelmann, Lottstetten 2002
erschienen in: das Orchester 06/2005 , Seite 74

Erwartungen sind bekanntlich dazu da, enttäuscht zu werden. Im vorliegenden Fall stellt man zunächst überrascht fest, dass der Ausgangspunkt des Stücks mitnichten Alexander Skrjabins „prometheischer Akkord“, sondern vielmehr der Beginn von dessen zehnter Klaviersonate darstellt – einer Komposition, für die der besagte Akkord keine besondere Rolle spielt. Es sind stattdessen die fallenden Terzen des Eröffnungszitats, die im Ohr bleiben und im weiteren Verlauf zumindest assoziativ immer wieder als Erkennungsmotiv aufscheinen. Der Prometheus-Akkord selbst erscheint unverstellt überhaupt erst am Schluss der Komposition. Und auch wenn er sich vorher immer wieder in unvollständiger oder durch Fremdtöne „verfälschter“ Form anzukündigen scheint, so lässt sich seine potenzielle Ordnungskraft als „Klangzentrum“ analytisch ebenso wenig herauslesen wie eine mögliche Entwicklung vom „thematischen“ Sonaten-Zitat des Anfangs zur klanglichen Essenz des abschließenden Akkords. Inwieweit ist der Titel also überhaupt Programm? Ist Ambiguität beabsichtigt? Oder hat das Essay schlicht sein Thema verfehlt?
Ernest Sauter (Jahrgang 1928) hat die knapp zehnminütige Komposition 1989 ursprünglich als Kammermusikstück für Solo-Viola und Streichtrio konzipiert und auf Anregung von Jürgen Weber (dem das Werk auch gewidmet ist) nun zu einem kleinen Viola-Konzert umgearbeitet. Schon die (in beiden Fällen) zurückhaltende Besetzung lässt vermuten, dass Sauters Beziehung zu Skrjabin (über eine allgemeine Affinität zur russischen Moderne und die Neigung zur Synästhesie hinaus) keinesfalls die eines epigonenhaften Spätverehrers ist. Seine „Abhandlung“ ist eher ein Blick aus der geschichtlichen Distanz: So wie das Sonaten-Zitat als Epigraf einer antiken Inschrift gleichgesetzt wird, so reflektiert Sauter im Abstand eines knappen Jahrhunderts über jene (eher abstrakten) Momente eines vergangenen Stils, die sich im eigenen Schaffen wiederfinden lassen: Die Konzentration der musikalischen Aussa-ge zu einem kompakt gearbeiteten Satz, eine kleinteilige Formentwicklung, die viele in sich sehr dicht strukturierte Passagen mehr oder minder lose aneinander reiht, reliktartige Rückgriffe auf Prinzipien des Sonatensatzes (es gibt zumindest die Andeutung einer Reprise) sowie die Tendenz zu ornamental wuchernden melodischen Linien sind einige solcher möglicher Berührungspunkte (für die der Prometheus-Akkord dann mehr symbolisch als pars pro toto stünde).
Wenn man will, kann man auch weitergehen und beispielsweise in den Tremolo-Flächen des siebten Abschnitts eine Anspielung an die „Insekten-Musik“ der Skrjabin-Sonate sehen. Doch eindeutig ist in diesem versteckten Beziehungsgeflecht kaum etwas: Denn trotz aller Einladungen zur musikgeschichtlichen Spekulation widersteht Sauter der Versuchung zur vordergründigen Stil-Kopie völlig und bleibt stattdessen durchweg einem ebenso individuellen wie ausdrucksstarken eigenen Ton treu – worin dann ein weiterer unerwarteter Clou des Stücks liegt.
Joachim Schwarz

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