Gratzer, Wolfgang (Hg.)

Ereignis Klangrede

Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Musikdenker

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rombach, Freiburg i.Br. 2009
erschienen in: das Orchester 10/2009 , Seite 64

Es war wohl das erste Mal, dass der Versuch unternommen wurde, dem vielschichtigen „Phänomen“ Nikolaus Harnoncourt umfassend und mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit näher zu kommen: Die Universität Mozarteum Salzburg veranstaltete im Januar 2008 ein Symposium unter dem Motto „Ereignis Klangrede. Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Musikdenker“. Die dort gehaltenen Referate füllen jetzt, vermehrt um zwei weitere Beiträge, diesen umfangreichen Band, den man – trotz mancher Leerläufe in Form von seitenlangen Statistiken und Aufzählungen – nicht ohne Gewinn studiert.
Zunächst besticht die übersichtliche Gliederung: Nach einer „Einleitung“ werden die einzelnen Beiträge in drei Hauptteile mit den Titeln „Orchester“, „Orte“ und „Schriften“ gebündelt. Allerdings fällt sofort auf, dass Harnoncourts eigentliche, revolutionäre Tat, die Durchsetzung der historischen Aufführungspraxis Alter Musik gemeinsam mit seinem Concentus musicus, nur kursorisch behandelt wird. Ja mehr noch: An die Urzeit des dagegen geführten, verständnislosen Kampfes erinnert der Beitrag von Martin Elste über „Nikolaus Harnoncourt und die Geschichte des Tonträgers“, der zeigen will, „wie der Mythos (!) vom Originalinstrument zur vermarktbaren (!) Mode (!) wurde“. Erhellend hingegen ist der Blick von Martin Grassl auf die florierende Alte-Musik-Szene Wiens zwischen 1945 und 1965, von der Harnoncourts Concentus musicus ursprünglich nur ein Teil war.
Der Großteil des Buchs befasst sich mit Harnoncourts Tätigkeit als „normaler“ Dirigent. Hier wiederum erschöpft sich das meiste in sachlichen bis hymnischen Berichten, so die Beiträge über seine Zusammenarbeit mit dem Arnold Schönberg Chor Wien, dem Wiener Musikverein und dem Berliner Philharmonischen Orchester oder sein Wirken bei der Grazer „styriarte“, den Salzburger Festspielen und Mozartwochen sowie am Opernhaus Zürich. Andere Autoren verbinden dagegen die jeweiligen Schilderungen mit spannenden Interpretationsvergleichen; so in den Artikeln über die Wiener Philharmoniker und Symphoniker, das Koninklijk Concertgebouworkest oder das Chamber Orchestra of Europe.
Kritische Untertöne werden nur vereinzelt laut. So etwa, wenn Paul van Reijen Harnoncourts Begründung für seine gern geübte unterschiedliche Temponahme von Menuett und Trio „diskussionsbedürftig, um nicht zu sagen unzureichend“ nennt; wenn Ulrich Leisinger Harnoncourts Bild von Mozarts Tempodramaturgie in den Nozze di Figaro „erhebliche Flecke und Risse“ attestiert; oder wenn Michael Malkiewicz ausführlich auf die Widersprüche zwischen Harnoncourts sprachlichen Äußerungen und seinen klanglichen Realisierungen hinweist. Gerade diese – gegenüber dem umfassend entrollten Bild vom bedeutenden Musiker Harnoncourt gewiss marginalen – Einwände stellen jedoch die Würze des Buchs dar, dessen mehrfache Errata hier nicht näher ausgebreitet werden sollen.
Gerhard Kramer