Pfleger, Tobias

Entschlackte Romantik?

Die Sinfonie von Robert Schumann in den Interpretationen historisch informierter Aufführungspraxis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Studio Punkt Verlag, Sinzig 2016
erschienen in: das Orchester 05/2017 , Seite 60

Dass sich die Resultate des historisch informierten Musizierens auch sukzessive auf die Werke des 19. Jahrhunderts auswirkten, erscheint evident. Leider wurden aber die Prämissen der Umsetzung in Tobias Pflegers Promotionsschrift, die als Band 2 der Schriftenreihe der Hochschule für Musik Karlsruhe „Klang – Wort – Ereignis“ erschienen ist, nicht hinreichend untersucht. Vielmehr wurden alle Werke gewissermaßen über einen Kamm geschoren, obgleich die Vortragsästhetik des 19. Jahrhunderts von anderen Vorstellungen ausging. Dabei wird folgerichtig unterschieden zwischen „romantischen“ Interpretationspraktiken der Vertreter der historischen Aufführungspraxis und einem Interpretationsstil, der einen Gegenentwurf zu einem sachlich-modernen Interpretationsstil bildet.
Ausgehend von den Sinfonien Robert Schumanns hat Tobias Pfleger diese Problematik akribisch untersucht und liefert eine spannende Spurensuche, die weit über das Schaffen von Schumann hinausgeht. Sie öffnet den Blick für neue Aspekte und sie bestätigt Gustav Mahlers Bonmot, dass Tradition Schlamperei sei. Akribisch werden die vermeintliche Authentizität der historischen Aufführungspraxis und deren ästhetische Grundlagen untersucht, aber auch, was „romantische“ Interpretationspraxis eigentlich sei.
Interessant die Überlegungen zum Verhältnis Partitur, Aufführung und Tondokument. Die Interpretationsanalyse fußt auf zwei methodischen Herangehensweisen, zum einen einer traditionellen Höranalyse, zum anderen einer softwaregestützten Analyse. Als Fundgrube erweist sich Kapitel 3: „Interpretationsanalysen: Die Umsetzung historischer Auffüh­rungspraxis und Vortragsästhetik in den Interpretationen historisch informierter Aufführungspraxis“. Hier werden Fragen beispielweise zur Orchesterdisposition, Orchestergröße, historischen Instrumenten, Tempi, Rubato und Phrasierung fundiert abgehandelt und in ein überzeugendes Theoriekonzept eingebunden, das aufgrund der komplexen Sachlage offenbleiben muss. Letztendlich schwebt Pfleger eine Synthese zwischen den Erkenntnissen und Resultaten der verschiedenen Interpretationsansätze vor.
Tobias Pfleger hat nicht nur einen intelligenten Beitrag zum Verständnis der Symphonien Schumanns vorgelegt und damit die Forschung ein gewichtiges Stück vorangebracht, sondern auch neue Zugänge zum Verständnis musikalischer Interpretationen anderer Komponisten eröffnet.
Der Band gibt mit seiner Vielfalt an Themen und Fragestellungen, die im Rahmen dieser Rezension nur ansatzweise dargestellt werden konnten, einen soliden, informativen und materialreichen Einblick in den Stand der Forschung.
Bleibt zu hoffen, dass dieses Buch den Anstoß für neue historisch-kritische, historisch-informative Interpretationen bildet und für Instrumentalisten und Dirigenten zum unverzichtbaren Handbuch wird. Die vielen Literaturhinweise und das Register runden den positiven Eindruck dieses Bandes ab.
Michael Pitz-Grewenig