Sadikova, Aziza

Entfernung

für Viola solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ries & Erler, Berlin 2005
erschienen in: das Orchester 12/2006 , Seite 86

Wie kann eine musikalische Arbeit einem so erschreckenden Hintergrund wie dem Leben, Leiden und Sterben in einem Konzentrationslager gerecht werden? Diese Frage stellt sich unweigerlich (wenn auch nicht zum ersten Mal) bei der Begegnung mit dem Solo-Viola-Stück Entfernung der usbekischen Komponistin Aziza Sadikova. Es ist der Bratscherin Kinga Maria Roesler gewidmet und gehört zu einem größeren Komplex von Werken verschiedener Komponistinnen, mit denen die Kulturfeste im Land Brandenburg 2003 an die Opfer des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück (ca. 90 Kilometer nördlich von Berlin) erinnerten. Zwischen Mai 1939 und April 1945 waren dort über 130000 Frauen und Hunderte von Kindern aus über zwanzig Nationen inhaftiert. Tausende von ihnen wurden ermordet oder überlebten die Strapazen des Lagerlebens nicht.
Sadikova nähert sich dieser schwierigen Thematik über ein Gedicht der Gefangenen Cläre Rupp: Der trostlose Tag gibt in einfachen Worten der auswegslosen Situation der inhaftierten Frauen Ausdruck. Entfernung ist eine sehr plastische Umsetzung des Gedichts und als Titel durchaus wörtlich zu verstehen: „Die Musik stellt die Sehnsucht mit nur wenig Hoffnung dar, auf der anderen Seite der Lagermauer zu sein.“
Innerhalb einer quasitonalen Akkordauswahl (überwiegend in D) beschränkt sich die Komposition dabei fast ausschließlich auf zwei Elemente: Elegisch ausgreifende Melodiebögen, meist in Sexten (den „stillen Gedanken voll Kummer und Trauer“) und zunehmend aggressiv dazwischenfahrende Arpeggio-Kaskaden über alle vier Saiten, die „Licht und Freude zusammen mit Zorn, Schmerz und Leiden“ ausdrücken sollen.
Die grundsätzliche Problematik des Stücks tritt schnell zutage: Es ist musikalisch zu harmlos, um seinen Inhalt künstlerisch überzeugend transportieren zu können. Die beiden Grundideen werden kaum entwickelt (sondern nur leicht verändert aneinandergereiht) und nutzen sich viel zu schnell ab, um über eine Dauer von elf Minuten tragfähig zu sein: Spätestens beim fünften Mal wirkt das Arpeggio-Gewitter (und mag es auch noch so „wütend“ sein) nicht mehr hartnäckig insistierend, sondern schlicht einfallslos. Zudem streifen insbesondere die mal „lyrisch“, mal „traurig“ zu spielenden Cantabile-Passagen mit ihren diversen Glissando-Effekten nicht selten den Bereich des Pathetischen, wenn nicht gar Banalen. Viel mehr als eine gut gemeinte Betroffenheitsmusik ist hier (leider) nicht entstanden.
Die Ausgabe von Ries & Erler ist allerdings sorgfältig ediert und lässt kaum Wünsche offen: Dank ausklappbarer Doppelseiten eignet sie sich auch bestens für Aufführungen. Nähere Informationen zum Werk (inklusive des Gedicht-Abdrucks) erhält man allerdings nur im CD-Booklet des Konzertmitschnitts Musik für Ravensbrück, das über die Kulturfeste im Land Brandenburg e.V. erhältlich ist.
Joachim Schwarz