Schnebel, Dieter / Jörg Widmann / Helmut Lachenmann

Ekstasis / Experimentelle Kammermusik / Furcht und Verlangen

musica viva - forum der gegenwartsmusik. Filme von Peider A. Defilla

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Wergo NZ 51/52/53
erschienen in: das Orchester 05/2006 , Seite 88

„Ich dachte zuerst einmal, das sei eine Art Oratorium. Aber ich glaube, das trifft es auch nicht. Höchstens ganz äußerlich. Es ist ein Stück für Chor, Solisten und Orchester, und es kommen gesprochene Texte vor: Also so einigermaßen weit hergeholt könnte man es unter diese Gattung fassen.“ Die einführenden Sätze von Dieter Schnebel zu seiner Komposition Ekstasis dürfen gerne als Trost von denjenigen genutzt werden, für die ein Zugang zu den Werken der Neuen Musik schwierig bis unmöglich ist.
Interessante Einblicke in seine Kompositionsweise gewährt auch Jörg Widmann. „Naturereignis, Bild, Architektur – die Anfänge für eine Komposition sind vielfältig“, erklärt er. „Aber die Inkubationszeit ist immer gleich.“ Bei Helmut Lachenmann dagegen ist zuerst einmal von Hilflosigkeit die Rede: „Man muss erst einmal hilflos sein. Der erste Klang der Siebten von Beethoven ist schon Musik… Der erste Klang von Mouvement ist gar nichts.“
Diese drei Statements – Momentaufnahmen aus längeren Interviews – sollen deutlich machen, was der Zuschauer erwarten darf, der diese neue DVD-Edition erworben hat. Denn er wird nicht allein gelassen mit den Klängen und Geräuschen der Neuen Musik. Vielmehr wird er selbst zum Mittelpunkt des Interesses, weil sein möglicherweise vorhandenes Wissensdefizit auf diesem Musikterrain konsequent und nachhaltig ausradiert werden soll.
1946 von Karl Amadeus Hartmann begründet, steht die Konzertreihe „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks als markanter Wegweiser in der vielfältigen, aber für das große Publikum oft sperrigen Szenerie der Neuen Musik. Seit 2002 strahlt der Sender BR-alpha wöchentlich einen jeweils fünfzehnminütigen Beitrag aus, der einem Komponisten gewidmet ist. Die beachtenswerte Kontinuität findet ihre Unterstützung in besonderem Maße in der unmittelbaren Mitwirkung zeitgenössischer Komponisten. So etwa stand Dieter Schnebel für ausführliche Interviews bereit, in denen er auf einfache Art aus der Neuen Musik das Fremde und Unzugängliche entfernte und auf fast spielerische Weise nachvollziehbare und gemeinverständliche Erklärungen lieferte.
An Schnebels Mitarbeit lässt sich exemplarisch dieser pädagogische Ansatz der DVD-Edition „musica viva – forum der gegenwartsmusik“, die nun regelmäßig bei Wergo erscheinen soll, festmachen. Jede Aufführung wird ergänzt durch üppiges Zusatzmaterial – Interview mit dem Komponisten und anderen beteiligten Personen wie Dirigenten und Musiker – und zeigt anhand von Notenmaterial und Proben das komplizierte Terrain der Neuen Musik. Was dazu führt, dass z. B. der Schlagzeuger Isao Nakamura während der Probenarbeit zu Schnebels Ekstasis in Shorts und T-Shirt zu sehen ist. Der Datenbereich der DVD bietet üppiges, keineswegs überflüssiges Beiwerk: Hinweise zum Werk, zu Aufführung und Besetzung, biografische Notizen zum Komponisten und zu den Interpreten machen aus jeder dieser DVDs ein kleines, aber informatives elektronisches Nachschlagewerk.
Klaus Hübner