Schulte im Walde, Christoph
Einsatz ohne weißen Kittel
Ein Besuch bei einem sehr speziellen gesamtdeutschen Orchester
Der Blick fällt durch raumhohe Glasscheiben hinaus auf den Rhein. An seinem Ufer Bäume, die gerade ihr letztes Laub abwerfen die Sonne scheint und verbreitet gleißendes Licht. Markant ragt der Fernsehturm in den Himmel, darunter eine der Rheinbrücken, die den Osten und Westen Düsseldorfs miteinander verbinden. Keine Frage, die Jugendherberge Düsseldorf (die besser und ehrlicher mit dem Begriff Jugendhotel beschrieben wäre) bietet ihren Besuchern und Bewohnern an einer wunderschönen exponierten Lage dieses faszinierende Panorama. Und wer sich gerade im großzügig bemessenen Gustav-Gründgens-Saal der Herberge aufhält, genießt den eben beschriebenen Blick. Wenn dann noch Robert Schumanns Konzert für Violoncello und Orchester erklingt, verschmelzen optischer und akustischer Eindruck zu einem runden Ganzen. Nicht weit ist ja der Weg zu jenem Palais, in dem Schumann mit Frau und Kindern jahrelang gelebt und gearbeitet hat.
Doch die Mitglieder des Deutschen Ärzteorchesters sitzen mit dem Rücken zur Glaswand des über hundert Quadratmeter großen Saals. Ihre Augen zielen ausschließlich auf zwei Punkte: das eigene Notenpult und den Dirigenten. Konzentrierte Arbeit ist angesagt, schließlich sind es nur noch zwei Tage bis zum ersten öffentlichen Konzert der aktuellen Arbeitsphase. Bevor Alexander Mottok näher in Details geht, gestattet er seinen Musikerinnen und Musikern erst einmal einen Durchlauf. Cellist Cem Cetinkaya geht derweil ganz in die Vollen, schont weder sich noch sein Instrument. Wer sich als Beobachter in diese Probe hineingeschlichen hat, merkt sofort: Hier sind Menschen am Werk, die in ihrem Engagement für die Musik aufgehen, die mit Leidenschaft dabei sind. Und nur so erreicht das Orchester die nicht unbeträchtlichen Ziele, die es sich immer wieder setzt.
Der Traum eines Münchner Mediziners
Die Gründung des Deutschen Ärzteorchesters (DÄO) vor 22 Jahren war eine rasche Angelegenheit, die nur einige wenige Monate in Anspruch genommen hat. Ein entsprechender Aufruf unter anderem im Deutschen Ärzteblatt genügte und im Nu hatten sich rund fünfzig Menschen bei Dieter Pöller in München gemeldet: Kolleginnen und Kollegen, von denen sich bis dahin kaum jemand persönlich kannte, die aber lebhaft interessiert waren an der Geburt eines ersten gesamtdeutschen Ärzteorchesters. So schnell dieser Gedanke in die Tat umgesetzt war, vom Himmel gefallen war er beileibe nicht. Denn Dieter Pöller, der 1924 in Westfalen geborene Naturheilkundler, erfüllte sich mit seinem DÄO den lang ersehnten Wunsch, nicht nur ein auf die Region begrenztes Ensemble dirigieren zu können wie das von ihm Ende der 1960er Jahre ins Leben gerufene Amateurorchester in München. Pöller wollte mehr und Größeres. Auf dem Weg dorthin hatte er schon früh seinen Wirkungskreis als Mediziner nach München verlegt. Ganz bewusst, standen ihm dort doch Möglichkeiten offen, das zu tun, was neben der Medizin quasi als zweites Herz immer in seiner Brust schlug: Musik zu machen, und hier ganz speziell: zu dirigieren. Etliche Jahre verbrachte Pöller am späteren Richard-Strauss-Konservatorium, lernte bei Fritz Rieger, schaute dem großen Celibidache über die Schulter, studierte die wichtigen Partituren der Orchesterliteratur. Damit legte er das Fundament für fünfzehn erfolgreiche Dirigentenjahre, in denen er beim DÄO seit seiner Gründung stets den Takt angab.
Pöllers Arbeit prägt das Orchester bis heute, auch wenn am Pult inzwischen ein Generationenwechsel stattgefunden hat. Alexander Mottok, Jahrgang 1972, wurde zunächst Pöllers Assistent, dann sein Nachfolger als Chefdirigent des DÄO. Mehrfach übers Jahr verteilt lädt es seine Mitglieder zu Proben- und Konzertprojekten irgendwo in Deutschland ein. Es ist schon eine ganz andere Art zu arbeiten, stellt Mottok fest. In der Tat: Die Streicher lassen sich keineswegs entmutigen, wenn sie diese vertrackte Sechzehntel-Stelle im Schumann-Scherzo zum x‑ten Mal wiederholen müssen. Manchmal brauchen auch hoch qualifizierte Laienmusiker etwas länger.
Gegen den Fachidioten-Trend
Apropos Laienmusiker: So ganz stimmt das im Fall des DÄO nicht. Einige der im DÄO aktiven Ärzte, Apotheker und Medizinstudierenden haben eine Doppelausbildung, sind also auch auf ihrem Instrument durchaus professionell. Es scheint sich herauszustellen: eine doppelte Begabung für Musik und Medizin ist gar nicht so selten! Ich weiß von einer Medizinstudentin in München, die am Institut für Geschichte der Medizin promoviert über das Thema Was eint und was trennt Ärzte und Künstler?, berichtet Michael Scheele, erster Vorsitzender des DÄO. Vielleicht ist diese Art Doppelbegabung auch der Grund, dass auf der Ebene von Städten, Regionen oder innerhalb der Grenzen diverser Bundesländer eine ganze Reihe verschiedener Ärzteorchester existieren, schon sehr lange Zeit und mit je unterschiedlichen künstlerischen Ansprüchen.
Das DÄO jedoch ist nach wie vor singulär. Sicher steht der Spaß am Musizieren im Vordergrund. Und dafür investieren die Orchestermitglieder ganz persönlich eine Menge Geld und noch viel mehr Zeit. Konzertmeister Rolf Kleinschmidt betont noch einen weiteren Aspekt: Wir verstehen uns schon als ein Stück Gegenentwicklung zu dem herrschenden Trend, dass Leute in ihrem Beruf zunehmend zu Fachidioten werden. In der Medizin ist es eine ganz wichtige Sache, über den Tellerrand hinauszuschauen, auch in Bezug auf unsere Patienten. Die Mediziner, die nichts nebenher machen, haben, glaube ich, auch Probleme mit der Kommunikation zwischen ihnen und ihren Patienten, so Kleinschmidt, der zu den Gründungsmitgliedern des DÄO gehört. Musikalisch aktive Ärzte seien keineswegs in jedem Fall die besseren Ärzte aber welche, zu denen der eine oder andere Patient womöglich spontaner Zugang bekäme und umgekehrt. Das folgt der ganzheitlichen Sichtweise auf Leben und Arbeit, wie DÄO-Gründer Dieter Pöller sie pflegt.
Dass die Gründung des Orchesters in das Jahr des Mauerfalls 1989 fiel, war reiner Zufall, bot jedoch die Chance, Kollegen aus den neuen Bundesländern zum Mitmachen zu gewinnen. In der Tat gab es nach der Wende Zuwachs. Das ist sowohl menschlich als auch instrumentaltechnisch bis heute eine echte Bereicherung, konstatiert Rolf Kleinschmidt. Auch wenn sich die musizierenden Ärzte nur zwei- bis dreimal pro Jahr zu ihren Arbeitsphasen treffen, so verstehen sie sich doch als eine große Familie, aus der heraus sich immer wieder kleine, solistisch besetzte Ensembles bilden. Da ist es kein Wunder, wenn sich nach den Orchesterproben oder sogar in den Mittagspausen diverse Grüppchen absetzen. Die einen spielen Beethovens Bläser-Septett, die anderen haben Spaß am Streichquartett. Die große Besetzung mit bis zu 130 Aktiven macht da vieles möglich.
Formal gesehen ist das DÄO ein ganz normaler eingetragener Verein mit einem Vorstand, verschiedenen Sprechern der einzelnen Instrumentengruppen und einem Mädchen für alles. Das heißt Christa Schmolke, spielt mit bei den 2. Geigen und hält organisatorisch die Fäden zusammen. Von Anfang an ist sie als Geschäftsführerin und Sekretärin mit dabei und hat manche Erfahrung in Planung und Durchführung der Proben- und Konzertphasen gesammelt. In einem Punkt ist sich Christa Schmolke ganz sicher und schmunzelt: Für jeden Krankheitsfall während unserer Treffen habe ich einen Arzt! Apotheker sind auch dabei, darüber hinaus zwei Personen aus dem Gesundheitsdienst. Und einige Studierende, die vom DÄO finanziell unterstützt werden.
Der Benefiz-Gedanke
Die Suche nach Auftrittsorten für das DÄO ist selten ein Problem, dazu haben dessen Mitglieder reichlich Kontakte. Da ist es dann schon mal der Münchner Herkulessaal, die Stuttgarter Liederhalle, die Laeiszhalle in Hamburg oder der Kursaal in Westerland auf Sylt. Das ist ein tolles Gefühl, auf solchen Bühnen an solchen Orten spielen zu dürfen, freut sich der Vorsitzende Michael Scheele. In den zurückliegenden Jahren waren es fast ausnahmslos Benefizkonzerte, mit denen das Orchester auf Reisen ging. Davon konnten unter anderem die Mukoviszidosestiftung oder die Ärzte für die Dritte Welt profitieren. Auch diesmal, im November 2010, ging der Reinerlös der drei Konzerte caritativen und medizinischen Einrichtungen zu. Dabei arbeiten wir kostendeckend, erläutert Christa Schmolke. Reise- und Unterbringungskosten zahlen unsere Mitglieder ohnehin aus ihrer eigenen Tasche. Aus den Eintrittsgeldern, den Mitgliedsbeiträgen und Spenden wird der laufende Vereinsbetrieb finanziert. Das ist alles ganz einfach.
Rolf Kleinschmidt thematisiert im Gespräch über das DÄO ein ganz interessantes Spannungsfeld: das zwischen Profi- und Amateurorchestern. Wenn ich selbstkritisch die Amateurszene betrachte, stelle ich fest, dass der gegenseitige Respekt voreinander fehlt. Profis sagen etwas überheblich: Was machen die da? Amateure sind aber auch manchmal ganz schön arrogant, wenn sie meinen, sie seien genauso gut wie die Profis was ja selten stimmt. Jeder habe aber seinen Ort in der Musiklandschaft, jeder seine Ausstrahlung, so die Überzeugung der DÄO-Mitglieder, die sicher sein können, mit ihren Konzerten auch Menschen zu erreichen, die vielleicht nie in ein normales Sinfoniekonzert gehen würden. Nicht in Herne, nicht in Düsseldorf, auch nicht in Mönchengladbach, wo Mozarts Zauberflöten-Ouvertüre, Schumanns Cellokonzert und Dvoráks Sinfonie Aus der Neuen Welt während dieser Arbeitsphase ein letztes Mal unter Leitung von Alexander Mottok erklang. Der konzentriert und präzis probende Dirigent hat auch diesmal ein erstaunliches klangliches Niveau erreicht, sicher auch deshalb, weil er immer wieder mit viel Humor arbeitet und deutlich zielgruppenorientierte Hilfe anbietet: Wenn Sie beim Klang dieser Stelle der Partitur Behandlungsbedarf beim Psychologen sehen dann war sie genau richtig gespielt. Solche Bilder versteht jeder einzelne der 70 Musiker an diesem sonnigen Vormittag in der Jugendherberge vor dem Düsseldorfer Rheinufer.