Kretschmer, Wolfgang L.

Einhören in Mahler

Wegweiser und Beispiele zum Verständnis der Sinfonien Gustav Mahlers

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Florian Noetzel, Wilhelmshaven 2010
erschienen in: das Orchester 11/2010 , Seite 67

Wenn man zunächst das Taschenbuch von mehr als 220 Seiten in Händen hat, fühlt sich die Fülle, worin die neun Sinfonien plus das Adagio behandelt werden sollen, als recht beachtlich an. Doch der erste Blick trügt. Zieht der geneigte Leser erst einmal die unzähligen, auf den Text bezogenen und durchaus hilfreichen Notenbeilagen des Anhangs I ab, außerdem den Anhang II mit seinen auf die Formteile blickenden „Graphischen Synopsen einzelner Sätze“ sowie die 367 Anmerkungen nebst Einleitung, so bleibt schließlich der Hauptteil mit insgesamt 58 Seiten übrig. Da sich überdies jener Teil auf allgemeine Informationen und zusammenfassende Gedanken über Mahlers Intentionen und Formbau der Sinfonien und dann endlich auf einen auf die Sinfonien selbst bezogenen Einhörteil beschränkt, so schrumpfen die Dimensionen auf einen Konzertführer-Minimalismus mit gerademal 30 Seiten – und das bei 9¼ Sinfonien!
Erschwerend kommt hinzu, dass die verwendeten Meistersinger-Termini der Barform wie „Stollen“, „Gegenstollen“ und „Abgesang“ nicht nur ungebräuchlich geworden sind, sondern auch schlichtweg nicht passen. Weiterhin gehören sowohl der verschraubte Schreibstil als auch die Meinungsbilder, welche im Hörteil zum Teil ergreifend-unverständlich zum Ausdruck kommen, einer Generation an, die mit ihrer subjektiv-blumigen Art nicht unbedingt zum Lesen und Nachvollziehen ermuntert. Und viele Passagen werden sich auch dem glühendsten Mahler-Enthusiasten nicht unbedingt erschließen. Ein wahlloses Beispiel aus der 5. Sinfonie, S. 47 (nach dem Anfangssignal): „Spätestens verläßt die Musik den Einleitungsstatus, unter dem sie antrat, beim Eintritt des Trios, das jedoch kein Trio mehr ist, sondern leibhaftiges Panikszenario. Behend umklammern die Violinen das b-Moll-Gerüst gleichsam im Schock, daß es bald versinken möge. Auffahrend mag sich die Trompete darüber hinwegschwingen, wird aber umgehend wieder niedergehalten wie in Angstträumen, in denen der Träumende davonlaufen möchte, jedoch auf die Stelle gebannt ist. Die Passage endet in einer schrillen Klimax.“
So wird auch in der unpopulären Neunten der Zugang ebenso erschwert: Der dritte Satz sei ein „Satz der ‚Wahrsagungen‘, die apokalyptischen Reiter scheinen alles miteinander zu Schanden reiten zu wollen – dennoch auch hier herrscht mehr Posse als Plot“. Es folgen weitere sinn­arme Zeilen nicht nur zu diesem von Ironie und ätzender Weltverachtung überschäumenden Satz, sondern auch zu dem bis zum Reißen gedehnten Adagio mit seiner klanggesättigten Todessehnsucht mit einem zum Ende hin sphärischen, weichbettenden, fragil werdenden Streichergesang, der in tiefe Ewigkeit entschwindet. Bei Kretschmer lediglich versinkt „der Abgesang, der auf den Block der 4. und 5. Variation folgt, im dreifachen piano“.
Ein Buch, welches der Mahler-Kenner oder -liebhaber nicht braucht, das dagegen dem musikinteressierten Laien – selbst zum Einhören –, der sich erstmals den wunderbaren mahlerschen Sinfonien-Kosmos erschließen will, wenig nutzt.
Werner Bodendorff

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