Sonntag, Sabine

Einfach toll!

Der Opernbesuch im Spielfilm

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2013
erschienen in: das Orchester 10/2013 , Seite 61

Warum gehen die Protagonisten von Filmen in Opern? Die Musikdramaturgin Sabine Sonntag führt in ihrem Buch mehrere Gründe an. Dazu gehört der Glamour der Ausstattung, Abendkleid wie glitzernde Juwelen, aber auch Parallelen der Opern- zur Filmhandlung wie etwa bei Pretty Woman die Parallele einer Prostituierten zur Kurtisane in La Traviata. Allgemeiner steht Oper für die Anbahnung von Liebesbeziehungen. Daneben bieten Komponisten-, Dirigenten- und Sängerfilme Anlass, Opernausschnitte zu verwenden. Insgesamt 250 Filme hat Sonntag vorgestellt. Nicht immer muss dabei eine Opernbühne gezeigt werden. Musik kann einfach auch nur kommentierend eine Szene begleiten, oder aber seltener: Der Besuch einer Aufführung steht in Bezug zum nachfolgenden Geschehen (Luis Bunuel, Der Würgeengel).
Die Gliederung des Buchs folgt filmischen Genres wie Comedy, Krimi, Künstler-, Literatur- oder Historienfilm. Daneben sind einzelne Kapitel sehr häufig verwendeten Opern gewidmet. Platz eins nimmt die erwähnte Traviata ein, bezüglich derer Billy Wilder in Lost Weekend denselben Zusammenschnitt von Szenen verwendet, wie er in Pretty Woman zu sehen ist. In beiden Fällen scheinen gesellschaftlich abgelehnte Personen der Anlass für die Parallelisierung von Bühne und Leinwand zu sein. Bei Wilder handelt es sich allerdings um einen Trinker, der sich in der Rückblende einen Opernbesuch vergegenwärtigt, bei dem ihn bereits am Anfang der Oper das Trinklied „Libiamo“ nur noch an Möglichkeiten zur Befriedigung seiner Sucht denken lässt. Die Anknüpfungspunkte sind in beiden Filmen verschieden, einmal handelt es sich um eine Art Remake mit Happy End, im anderen Fall um eine direkte inhaltliche Anknüpfung. Sonntag interpretiert Wilders Verwendung allerdings vor allem als Raffung der Zeit in einer Reihe von Rückblenden. Angesichts ihrer sonst sehr differenzierten Interpretationen erstaunt diese Verkürzung.
Der Zeitraum, den Sonntag abschreitet, betrifft fast hundert Jahre, selbstverständlich vor allem den Tonfilm, darunter auch Propagandafilme der Nationalsozialisten. An Nebenbemerkungen, z. B. dass in diesen Filmen viel weniger Wagner-Zitate verwendet werden, als man vermuten könnte, zeigen sich die umfassenden Kenntnisse der Autorin. Hätte man aber auch eine stärker filmwissenschaftliche Betrachtung erwarten dürfen? Die spezifischen dramaturgischen Mittel des Films finden nur selten Erwähnung, und zwar ohne weitergehend interpretiert zu werden. Dies betrifft auch die öfter angeführte Überblendung (z. B. im Hinblick darauf, dass sie etwas anderes bedeutet als ein Schnitt).
Allerdings geschieht diesem Buch mit einer filmwissenschaftlichen Kritik Unrecht. Die unterschiedlichen Mittel der beiden Medien Oper und Film stehen nicht im Mittelpunkt der Betrachtung. Eine „alternierende Montage“ findet nur in einer Fußnote Platz. Das Buch ist aus der Sicht der Oper und wahrscheinlich für den Opernliebhaber geschrieben. Eine vergleichbare wissenschaftliche Recherche, die derart angenehm erzählerisch dargestellt ist, findet man selten. Es macht daher Vergnügen, dieses Buch zu lesen.
Helga de la Motte-Haber