Pascal Dusapin

Eine Musik im Werden

hg. von Thomas Mayer

Rubrik:
Verlag/Label: Schott, Mainz 2017
erschienen in: das Orchester 04/2018 , Seite 60

Er spreche eigentlich nie über Musik. Und schon gar nicht erfinde er Systeme, die einen „theoretischen Korpus“ entwickelten. Dies erklärt einerseits, warum sich die Musik von Pascal Dusapin oftmals dezidiert (klang-)sinnlich gibt und sich vielfach aus anderen Künsten speist.
Trotzdem fällt andererseits auf, dass in den Partituren von Pascal Dusapin vielfach die sorgsame und zugleich kunstvolle Reflexion von Polyfonie und Kontrapunkt eine gewichtige Rolle spielt. Mit anderen Worten: Der 1955 geborene französische Komponist, maßgeblich angeleitet durch Iannis Xenakis, Olivier Messiaen und Franco Donatoni, beherrscht das kompositorische Handwerk samt den tradierten Regeln. Überdies zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sich in seinen Werken mathematisch bestimmte Strukturen feststellen lassen, was die Sache nicht gerade einfacher macht und das Zitat von Dusapin gewissermaßen relativiert.
Umso erhellender ist sein erstes Buch Une musique en train de se faire, das 2009 veröffentlicht wurde und jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist: in einer umsichtigen, feinsinnigen Übersetzung von Ulrike Kolb. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Vorlesungen, die Dusapin am Collège de France in Paris gehalten hat. Seit 2007 hatte er dort den Lehrstuhl für „création artistique“ inne.
Nach einem „Prélude“ auf das Sprechen über Musik folgen grundsätzliche Erörterungen, die sich mit der Übertragung von Wissenschaftlichkeit auf die Kunst und Musik beziehen: mathematisch Bestimmbares wie Chaostheorie, Morphogenese oder Fraktale. Wie der Herausgeber Thomas Meyer in seinem exzellenten Vorwort skizziert, wird deutlich, wie sehr Dusapin mit ihnen hadert, denn: „Ein authentischer Künstler weiß nicht“, so Dusapins Motto, was mit derartigen Modellen eben schwer zu vereinbaren ist.
Meyer ist es auch, der in dieser Haltung Dusapins eine dezidierte Kritik am Lehrbetrieb erblickt. Jedenfalls merkt Meyer zu Recht an, dass auch hierzulande Kunst und Geisteswissenschaft gleichermaßen mit quantitativen Methoden der Wissenschaft konfrontiert und unter Druck gesetzt würden. Daran reibt und stößt sich Dusapins Musik. Seine Erörterungen stützt
Dusapin auf eigene Werke: Kammer- und Klaviermusiken, Orchesterwerke, Solokonzerte, Oratorien.
Schließlich kommt Dusapin auch auf sechs Opern zu sprechen, die bis 2007 entstanden sind. Diese sind: Roméo et Juliette von 1985/88, Medeamaterial von 1990/91, To Be Sung von 1993, Perelà, uomo di fumo von 2001, Faustus. The Last Night von 2006 sowie Passion. Eine zusätzliche CD mit Hörbeispielen und Ausschnitten aus den erwähnten Werken wäre gewiss erfreulich. Dafür aber glänzt dieses wichtige, absolut lesenswerte Buch nicht zuletzt mit kenntnisreichen, informativen Anmerkungen. Wer mehr über die Geisteswelt und Haltung dieses prominenten, einflussreichen Komponisten der Gegenwart wissen möchte, der findet Ungeahntes und Unerhörtes.
Marco Frei