Carolyn Abbate/Roger Parker
Eine Geschichte der Oper
Die letzten 400 Jahre
Angesichts eines immer älter werdenden Publikums, das ein natürliches Ende des Operntheaters absehbar macht, erscheint es eine recht mutige Sache, den Markt mit einem 736-seitigen Opernbuch zu beschicken. Aber hier scheint es unterschiedliche Sichtweisen zu geben: Die beiden Autoren konstatieren für die USA bzw. für Großbritannien eine blühende Opernlandschaft mit sogar ansteigender Tendenz. Dieser etwas zu angloamerikanische Blickwinkel ist eine der wenigen diskussionsbedürftigen Stellen im Buch. Im Übrigen ist es nämlich äußerst kenntnisreich geschrieben und das weit über die eigentliche Opernthematik hinaus. Die Autoren kennen sich in der schönen Literatur ebenso aus wie in der Allgemeinhistorie, sie rekurrieren vergleichend auf Malerei ebenso wie auf Film und Kino, auch die Politik kommt nicht zu kurz es gibt einfach kaum ein Wissensgebiet, das nicht höchst kompetent herangezogen würde!
Die wichtigsten Opern werden nicht nur musikalisch-inhaltlich besprochen, sondern auch rezeptionsgeschichtlich unter die Lupe genommen und in kulturelle (und kulturpolitische) Kontexte gestellt. Wenn die Verfasser einerseits das Absterben der Oper konstatieren, ihr andererseits eine höchst erfreuliche Vitalität bescheinigen, dann ist das nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Lebendig ist die Oper insofern, als mit einem riesigen Übergewicht Vergangenheit auf die Bühnen der Welt gebracht wird (also Mozart, Verdi, Wagner usw.). Ihr Absterben diagnostizieren die Verfasser dort, wo es sich um Kompositionen ab etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts handelt ungeachtet des von ihnen besonders in den Fokus gerückten Opernschaffens eines Benjamin Britten.
Hier wirds dann aber doch ein wenig zu anglozentrisch: Das umfangreiche uvre eines Hans Werner Henze wird zwar konstatiert, eine eingehende Besprechung (wie bei Britten) gibt es hingegen für keine seiner Opern. Als Opernkomponist des 20. Jahrhunderts wird auch Schostakowitsch noch gewürdigt (mit dem Fehler, dass man seine unvollendet gebliebene, von Krzysztof Meyer aber kongenial zu Ende komponierte Oper Die Spieler völlig ignoriert), namentlich erwähnt wird auch noch Ligeti (Le Grand Macabre), aber z.B. Alfred Schnittke oder Wolfgang Rihm finden überhaupt nicht statt und das, obwohl zumindest Rihms Die Eroberung von Mexiko in vielerlei Hinsicht das Zeug zu einer Repertoireoper besitzt, die als solche auch international zu reüssieren vermochte.
Die bedauerlichste Unterlassung findet sich freilich in den Apparaten: Unter der Rubrik Deutschsprachige Einführungsliteratur fehlt ausgerechnet das hier wichtigste Werk überhaupt: Ulrich Schreibers fünfbändiger Opernführer für Fortgeschrittene. Ohne diese kleinen Kratzer im Lack wäre das Buch vielleicht das beste Opernbuch der letzten 400 Jahre geworden so aber ist es nur eines der besten.
Friedemann Kluge