Strauss, Richard

Eine Alpensinfonie

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naxos 8.557811
erschienen in: das Orchester 12/2006 , Seite 91

Richard Strauss hatte besondere Beziehungen zu Thüringen. Mit 21 Jahren berief ihn Hans von Bülow als seinen Assistenten an die Meininger Hofkapelle und 1885 wurde Strauss für ein Jahr der Nachfolger seines Mentors. Mit 25 Jahren wurde er für fünf Jahre Zweiter Dirigent der damaligen Hofkapelle (seit 1919 Staatskapelle) Weimar, dirigierte dort die Uraufführungen seiner eigenen ersten Oper Guntram und von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel sowie legendäre, ungekürzte Aufführungen von Wagner-Opern. In Weimar wurden außerdem später Strauss’ sinfonische Dichtungen Don Juan, Macbeth und Tod und Verklärung uraufgeführt.
Im Winter 1914/15 komponierte Richard Strauss seine letzte sinfonische Dichtung, Eine Alpensinfonie op. 64, die bis heute unterschiedlich beurteilt wird. So lesen wir in einem aktuellen Konzertführer: „Dem Naturliebhaber und begeisterten Bergsteiger Strauss musste ein Sujet nahe liegen, das sich auf die Berge seiner bayrischen Heimat bezog; es ist indessen erschütternd, feststellen zu müssen, dass reines Nachbilden sicht- und hörbarer äußerer Sinneseindrücke das Wesen dieser Musik bestimmt. Von der erhabenen Ursprünglichkeit und Unberührtheit der Bergwelt ist unter aller instrumentaler Raffinesse nichts mehr zu spüren, die Klanggesten des ins Groteske angewachsenen Apparats (einschließlich der Orgel mindestens 125 Musiker!) wirken, sobald sie die Empfindungen ausdrücken sollen, seltsam abgegriffen, verbraucht. Die kontrapunktischen und instrumentatorischen Künste dieser Riesenpartitur können nicht über die erschreckende Wahrheit hinwegtäuschen, die sich in jenem Satz des Komponisten über sein Werk spiegelt: ,Jetzt hab ich endlich instrumentieren gelernt!‘ – In der Alpensymphonie [sic!] ist die technische Seite des Komponierens zum Selbstzweck entartet.“
Solchen negativen Urteilen über die Alpensinfonie kann ich mich nicht anschließen, sondern sehe darin ein durchaus überzeugendes musikalisches Glaubensbekenntnis an die Natur. Ihre tiefere Bedeutung erschließt sich aus der Werk-Genese, wie sie Keith Anderson im Beiheft dieser CD referiert. Strauss’ ursprünglicher Plan war eine sinfonische Künstler-Tragödie, die ebenfalls in den Alpen spielen sollte, über das Schicksal des Schweizer Malers Karl Stauffer-Bern, der von einem wohlhabenden Schweizer Ehepaar aufgenommen wurde. Die Affäre mit der Frau seines neuen Mäzens endete damit, dass Stauffer und später auch seine Geliebte sich das Leben nahmen. Der erste Teil des neuen Werks (wo sich ein diatonischer Cluster von oben auffächert) stammt noch aus dem Entwurf von 1902. In der Alpensinfonie kam dazu Nietzsches Auffassung, überkommene religiöse Zwänge seien zu überwinden, und die vordergründige „Handlung“ einer Bergwanderung.
Der polnische Stardirigent Antoni Wit lässt diese Musik hier vollkommen natürlich fließen. Freilich könnte er sich für manche Stellen mehr Zeit nehmen, die Polyfonie könnte noch durchsichtiger sein, manches emphatischer oder drastischer. Dass diese Niedrigpreis-CD dennoch mühelos in die obere Mittelklasse der Strauss-Diskografie stürmt, liegt an der jederzeit untadeligen Staatskapelle Weimar. Man findet bei dem in fünf Jahrhunderten gewachsenen Spitzenorchester Thüringens beste deutsche Orchestertradition, wie sie heutzutage selten geworden ist. Die Klangfarben wirken niemals bunt und sind dennoch klar unterscheidbar – man hat fast den Eindruck, einige allzu plakative Effekte wie die Windmaschine wurden bei dieser Aufnahme aus der Weimarhalle schamhaft im Gesamtklang versteckt…
Ingo Hoddick