Pegelhoff, Ralf

Ein (noch) unerkanntes Spannungsfeld?

Instrumentalausbildung und deutsche Orchesterkultur

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 04/2009 , Seite 25
Dass Musikhochschulen möglicherweise nur mangelhaft auf eine spätere Berufstätigkeit im Orchester vorbereiten, weil zu wenig Augenmerk auf die im Orchesteralltag notwendigen praktischen Fähigkeiten gelegt wird, ist auch in dieser Zeitschrift bereits mehrfach diskutiert worden. Neu ist ein völlig anderer Aspekt: Inwieweit sind die Arbeits- und Lebensbedingungen einer kleiner werdenden Berufsgruppe bei denen angekommen, die für diese Berufsgruppe ausbilden? Anders gefragt: Welche Fähigkeiten – neben profunden instrumentalen und musikalischen – muss ein zukünftiges Orchestermitglied noch mitbringen, damit nicht nur sein persönliches Überleben, sondern auch das der Gesamtinstitution "Orchester" gewährleistet ist?

In den Orchestern
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich Orchester heute behaupten müssen, haben sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Als Stichworte seien das Nachlassen der musikalischen Bildung breiter Bevölkerungsschichten, die fehlende Akzeptanz der Notwendigkeit kultureller Bildung bei den politisch Verantwortlichen jenseits der üblichen Sonntagsreden (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel) und nicht zuletzt die aktuelle Finanzkrise genannt. Das (Un-)Wort der ehemaligen Staatsministerin Christina Weiss von den „weltfremden Verwöhnlandschaften“, in denen Orchestermusiker angeblich leben, hat ein Übriges dazu beigetragen, den Blick für die realen Arbeitsbedingungen einer ganzen Berufsgruppe zu vernebeln.
Eine zunächst gar nicht so offensichtliche Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen ist die Zunahme der Konflikte, sowohl innerhalb der Orchester – z.B. ausgelöst durch Umstrukturierungen, Verkleinerungen oder Fusionen –, die notwendige Sanierungen verzögern oder ganz verhindern, wie auch eine Zunahme der Konflikte mit der Orchesterleitung oder der Intendanz. Die negativen Folgen für das Klima in den Orchestern sind offensichtlich: Viele Kollegen resignieren, gehen ins Private. Andere lassen ihren Unmut offen heraus und tragen damit bewusst oder unbewusst zu einer weiteren Eskalation bei, die andere noch weiter in die innere Kündigung treibt.
Dabei brauchen unsere Orchester mehr denn je engagierte Musiker, die sich für ihr Orchester und damit auch für einen wesentlichen Teil unserer musikalischen Kultur einsetzen, sei es als Musikvermittler in Schulen und Kindergärten, sei es bei der Bildungsarbeit im Hinblick auf neue Publikumsschichten, sei es durch das Entwickeln neuer Konzertformate, bei der regionalen Vernetzung, bei Projekten im Rahmen von Gewaltprävention an Schulen etc.
Teamgeist und Verantwortungsbereitschaft sind der Schlüssel, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunftsperspektive. Dies gilt sowohl für die einzelnen Klangkörper wie auch für die gemeinsame Weiterentwicklung der gesamten deutschen Orchesterlandschaft.

In den Ausbildungsinstituten
Aber sind diese Inhalte bei den Ausbildungsinstituten und insbesondere bei den Unterrichtenden angekommen? Als langjähriger Lehrbeauftragter an einer Musikhochschule war es für mich immer wieder bestürzend zu beobachten, wie sehr hochschulinterne Blickwinkel die Perspektive der Studierenden einengen, sie damit zu wenig auf ein Leben nach dem Studium vorbereiten und damit indirekt Frustrationen im späteren Beruf initiieren.
Der während der Ausbildung sicher notwendig verengte Horizont in Bezug auf die eigene künstlerische Entwicklung sollte zumindest gegen Ende des Studiums geweitet und auf mögliche realistische Szenarien eingestellt werden. Dazu gehören im Orchester u.a. eine gesunde Einstellung zum Umgang mit vielen ganz unterschiedlichen Menschen, mit verschiedenen Generationen und Nationalitäten, zum Umgang mit schwierigen Kollegen, mit schwierigen Rahmenbedingungen, seien es mangelhafte Klimaanlagen, lange Busfahrten, schlechte Bestuhlung oder Beleuchtung, von Schwierigkeiten mit Dirigenten oder anderen Vorgesetzten gar nicht zu reden. Spätestens, wenn man einige Zeit im Orchester gespielt hat, ist man nicht mehr der gefeierte Nachwuchsstar, sondern ein Kollege unter vielen, der seinen Dienst versieht und damit zum ganz normalen Bestandteil eines Kollektivs wird. An diesem Schwenk reiben sich viele Kollegen Jahre, manchmal Jahrzehnte.

Stellenantritt ist auch Aufforderung zur Mitgestaltung
Dem Mangel an praktischer Ausbildung an den Hochschulen wird durch die zunehmende Zahl von Orchesterakademien begegnet. Es gibt darin durchaus viele erfahrene Orchestermusiker, die über die praktischen Kenntnisse hinaus geistiges Wissen über die beruflichen Realitäten an die Studierenden weitergeben – wie auch an manchen Hochschulen. Trotzdem bleibt der Mangel an Angeboten zur Verbesserung von Kommunikations-, Konflikt- und Teamfähigkeit bestehen. Diese Kompetenzen sind es, die in Zukunft immer wichtiger werden und mit darüber entscheiden, wie ein Orchester sich entwickeln wird.
Dieser Umstand ist mittlerweile auch vielen Orchesterkollegen bewusst und führt zu einem Nachdenken über das Auswahlverfahren für junge Orchesterkollegen. Das Probespiel ist zwar noch eine „heilige Kuh“, das Unbehagen bei der alleinigen Konzentration auf die künstlerische Leistungsfähigkeit führt trotzdem zunehmend zu der Forderung nach weiteren Alternativen zum Ausprobieren, auch wenn das neue Orchestermitglied noch ein Probejahr vor sich hat.
Diese Tatsache hat sich bei Professoren und Instrumentalausbildern noch nicht genügend herumgesprochen. Es wird möglicherweise über instrumentale Fehler der Studenten oder mögliche Intrigen beim Probespiel diskutiert, nicht aber über einen Wertewandel im Berufsbild des Orchestermusikers, der mit seinem Eintritt in ein Orchester nicht nur die Möglichkeit zu einer künstlerischen Karriere und eine finanzielle Absicherung erhält, sondern auch aufgefordert ist, sich als Teil eines Teams zu verstehen und einzubringen.
Künstlerische Kompetenz und Selbstvertrauen auf der einen sowie Teamfähigkeit, Flexibilität und Engagement auf der anderen Seite führen auf Dauer zu einem befriedigenden Berufsleben im Orchester. Die aktuellen Herausforderungen fordern möglicherweise noch einen ganz anderen Einsatz. Die Notwendigkeit dieser „Zusatzkompetenzen“ sollte einen festen Platz im Bewusstsein und Lehrplan der Unterrichtenden an Hochschulen und Akademien haben, denn diese sind es, die möglicherweise mit darüber entscheiden, ob es zukünftig 133 oder doch nur 80 Orchester in Deutschland geben wird. Manch ein Kulturpolitiker könnte im Übrigen bei sinkenden Orchesterzahlen auch auf die Idee kommen, die Zahl der Ausbildungsinstitute zu verringern, und spätestens dann werden die Elfenbeintürme eingerissen.