Brahms, Johannes
Ein deutsches Requiem op. 45
Die lange Vorgeschichte von Brahms Deutschem Requiem vom Sarabanden-Scherzo einer entstehungsgeschichtlich mit dem d‑Moll-Klavierkonzert verbundenen zweiklavierigen Sonate bis zum Denn alles Fleisch, es ist wie Gras des Requiems ist bekannt. Ebenso bekannt ist, dass der Komponist Ende der 1860er Jahre mit so unterschiedlichen Werken wie dem repräsentativen Deutschen Requiem und den Ungarischen Tänzen in der vierhändig-hausmusikalischen Klavierfassung breite nationale und internationale Beachtung fand.
Sein (mangels Oper) umfangreichstes Werk hat er später viele Male selbst dirigiert. Wenn er 1894 die im Druck bis dahin angegebenen Metronomzahlen zurückzog (die für die Außensätze relativ bewegte Tempi gefordert hatten), lag das wohl vor allem daran, dass das Werk sich durchgesetzt und er selbst bei Aufführungen wechselnde Tempi erprobt und für gut befunden hatte. Dass sich Dirigenten des 20. Jahrhunderts in den Ecksätzen zum Teil bis an die Schmerzgrenze musikalisch-kulinarischen Stillstandes bewegen würden, ahnte er wohl nicht; aufgrund eigener Erfahrung meinte er sogar, er werde immer zu schnell gespielt. Das waren Zeiten!
Die neue Einspielung stellt sich großer Konkurrenz, wobei neben eindeutig historischen und jüngeren historisch informierten Einspielungen Simon Rattles 2007 produzierte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern genannt sei. Järvis Tempi wirken keinesfalls zäh, sind aber, wie schon Zeitvergleiche zeigen, doch langsamer als bei Rattle (Nr. 1: 10:37 gegenüber 9:55; Nr. 2: 15:17 gegenüber 14:14, Nr. 7: 12:25 gegenüber 10:30). Gegenüber dem direkter gespielten und aufgenommenen Berliner Orchesterklang wirkt derjenige des Frankfurter hr-Sinfonieorchesters paradoxerweise teils facettenreicher, teils unbestimmter. Da meint man vor allem in Holzbläser- oder Hörnerpartien bestimmte Details noch nie so gehört zu haben und ist frappiert.
Andererseits wirkt der Gesamtklang mitunter wie hinter Milchglas, wobei die Dies-Irae-artigen Fortissimo-Blöcke von Nr. 2 klanglich leicht gebremst wirken. Ambivalent wirkt es auch (gerade weil man Järvis Dirigieren nicht sieht), dass die beiden eröffnenden Chortakte, die mit ihren ganzen Noten nach der Viertelbewegung der Orchestereinleitung ohnehin die Bewegung anzuhalten scheinen, statt acht gedachter Viertelschläge scheinbar zehn benötigen, ehe es annähernd im Anfangstempo weitergeht. Das irritiert trotz aller Intensität und wirkt eher kulinarisch als strukturell gedacht. Zu dem etwas milchigen Klang, bei dem etwa gleich zu Beginn des Werks vibratoarme Streicher erfreuen und erfrischen, passen die stark vibrierenden Stimmen der Vokalsolisten trotz aller Eindringlichkeit wenig. Fazit: ein ambivalentes Requiem.
Michael Struck