Berg, Alban / Arnold Schönberg

Drei Orchesterstücke / Pelleas und Melisande

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 901 1807-6
erschienen in: das Orchester 01/2014 , Seite 79

„Der Untergang des alten Europa“, „Der taumelnde Kontinent“, „Der Sommer des Jahrhunderts“ …derzeit stehen die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter hoher medialer Aufmerksamkeit. Aus hundertjähriger Distanz blicken und hören wir fasziniert in die Epoche Freuds, Kafkas und Musils, in die Zeit der wilden expressionistischen Maler und der nicht weniger couragierten Komponisten, deren Werke spektakuläre Skandale hervorriefen. Als Schönbergs Tondichtung Pelleas und Melisande 1905 ihre Wiener Premiere erlebte, galt der Komponist bereits als radikalster unter den Neutönern. Eine „gewisse geniale Verrücktheit“ attestierte man dem Werk, doch im Allgemeinen herrschte Ratlosigkeit: „Viele Hörer lachten“, berichtet ein Rezensent, „die meisten ergriffen die Flucht, nur die überzeugten Anhänger applaudierten.“ Vermutlich noch größeres Entsetzen hätten die in ihrer Radikalität einzigartigen Drei Orchesterstücke op. 6 des Schönberg-Schülers Alban Berg hervorgerufen, wären sie unmittelbar nach ihrer Fertigstellung 1914/15 aufgeführt worden. Ihre Premiere fand jedoch erst 1923 statt.
Hören wir die beiden Werke in chronologisch richtiger Reihenfolge – erst Schönberg, dann Berg –, erschließt sich vollends die Radikalität, mit der Schönberg und sein Kreis innerhalb weniger Jahre sämtliche Parameter der Musik auf die Spitze, ja: zum Bersten trieben. Dass in der vorliegenden Produktion die Stücke „verkehrt herum“ angeordnet sind, mag als marginaler (und nicht ganz ernst gemeinter) Kritikpunkt vermerkt werden, denn ansonsten lässt sich nur Positives vermelden. Jac van Steen war von 2008 bis 2013 als Generalmusikdirektor in Dortmund tätig und hat in dieser Zeit offenbar das traditionsreiche Orchester zu einem Klangkörper der Sonderklasse geformt. Volltönend, farbenreich, warm, niemals jedoch „dick“, vielmehr inmitten der komplexesten Klanglandschaften mit besonderer Liebe zum Detail, zur kammermusikalischen Durchhörbarkeit agierend – Attribute, die den Dortmunder Philharmonikern zur Ehre gereichen und die auf dieser vorzüglichen CD in reichem Maße zu vernehmen sind. Überdies hören wir exquisite Soli der Streicher, Holzbläser und zumal der exorbitant schwierigen hohen Blechbläser.
Nicht allen gestalterischen Details muss man folgen: Manchen Passagen im Pelleas fehlt es an Breite, andererseits mag man sich in dramatischen Zuspitzungen mehr Bedrohlichkeit, mehr Ekstase wünschen. Ohne Zweifel aber dokumentiert die CD das bemerkenswerte Ergebnis einer offenbar intensiven und auf gegenseitiger Empathie basierenden Zusammenarbeit zwischen Orchester und Dirigent.
Jac van Steens Dortmunder Vertrag wurde, so war zu hören, nicht verlängert. Sein Abschiedskonzert im Juli 2013 endete mit Standing Ovations, die Spitzen der Kommunalpolitik wurden – in Abwesenheit – mit Buhrufen bedacht. Dies ist nicht der Platz, politische Vorgänge zu kommentieren. Indes: Künstlerische Differenzen waren wohl kaum ausschlaggebend für das vorzeitige Ende. Was aber dann?
Gerhard Anders