Arnulf Herrmann

Drei Gesänge am offenen Fenster/Tour de Trance

Anja Petersen (Sopran), Björn Lehmann (Klavier), Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Stefan Asbury, Pablos Heras-Casado

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BR Klassik 900641
erschienen in: das Orchester 9/2023 , Seite 71

Als würde die Seele sprechen, nach Ausdruck von Qual suchen mit Wort und Ton, am offenen Fenster in die Nacht hinausjapsen, als würde der Mensch, in welchem diese Seele wohnt, festgefahren in immer den gleichen Kreisen denkend sich winden – so kreisen auch Arnulf Herrmanns Drei Gesänge am offenen Fenster in kleinen Tonschritten um einen nicht vorhandenen Mittelpunkt, kratzend und zupfend suchen die Streicher im letzten Satz einen Ausweg aus dem Irrgarten, in die sich der Sopran von Anja Petersen verirrt zu haben scheint, bis das Chaos in perkussiver Rhythmik über ihr zusammenschlägt. Danach nur noch Fetzen von Wort und Ton, ein Dahinsiechen: „… bist du : bin ich : die zitternd : spricht : es : ist : die luft : schlug: auf : brach : sich : der schlag : er : öffnet mich“, so der Text von Händl Klaus, der dem Libretto von Herrmanns Oper Der Mieter entstammt. Vom Schwanken des Bewusstseins, vom Sprung in den Tod spricht Markus Böggemann in seinem sehr anschaulichen Booklettext, der philosophisch psychologisch die schwankenden Stimmungen der Klänge in Worte zu fassen vermag. Interessant und ausgefallen ist Herrmanns Orchestrierung und Tonsprache der verzweifelten Seele – wobei er Raum lässt für die ganz eigenen Assoziationen des Hörers.
Mit brutalen tiefen Klavierschlägen zur Verlorenheit des schwebenden Soprans startet die Tour de Trance für Sopran und Klavier (Björn Lehmann) nach dem Text von Monika Rinck zum fernbleiben der umarmung. Um Wellen der Erschütterung, halluzigene Leere und toxisch verrauschte Schläge geht es im Gesangstext.
Die hierauf folgende Orchesterfassung von 2020 beginnt beinahe noch unerträglicher als die Klavierfassung, so schmerzhaft treffen hier die Schläge der tiefen Bläser. Der dritte Satz „poisoning time“ und der vierte „tour de trance“ der insgesamt vier Sätze beziehen sich direkt auf die Liedfassung. Der erste Satz des knapp eine halbe Stunde dauernden Werks ist betitelt mit „manische Episode“ – und klingt auch so in seinem Hetzen und wahllosen Treiben. Der zweite Satz trägt keine Bezeichnung und ist schwer fassbar. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ergibt sich dem hypnotischen Sog der Komposition, intensiv und berauschend winden sich Streicher um Bläser, bevor sie sich zusammentun und hin zum unerbittlichen Hämmern des Schlagapparats aufbäumen. Eine Wonne ist es, sich dieser klanggewaltigen Intensität hinzugeben. Es gibt nichts, an was man sich orientieren oder festhalten könnte, keinen Moment der Entspannung oder Harmonie – dafür eine Fülle an Abgründen, von vielerlei Seiten beleuchtet und ausgekostet. Kathrin Feldmann

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