Mortier, Gerard
Dramaturgie einer Leidenschaft
Für ein Theater als Religion des Menschlichen
Da, wo politische und ökonomische Entscheidungen zur Zeit meistens ohne jede langfristige Vision getroffen werden, brauchen wir mehr als je zuvor das Theater als moralische Anstalt, die sich sowohl die Warnung wie die Vision zur Aufgabe macht. Fragen wie: Wozu Theater? und: Wie Theater machen? haben Gerard Mortier nicht einfach nur beschäftigt, sie haben den brennend neugierigen und hochgebildeten Theatermann umgetrieben, ihn an Grenzen gebracht, die er wagemutig übertrat, auch wenn der Aufschrei der Erzkonservativen in seinen Ohren gellte.
Gerard Mortier wagte es nicht nur, das Theater mit dem scheinbar altmodischen Label der moralischen Anstalt zu belegen, er ging weiter. Die Essenz seines Theaterbegriffs hat er im Titel des vorliegenden Essaybändchens formuliert: Theater war für Mortier von Leidenschaft bewegte Dramaturgie, eine Religion des Menschlichen.
Im Jahr 2009 wurde das französische Original publiziert. Die deutsche erweiterte Ausgabe (Übersetzung: Sven Hartberger) begleitete Mortier bis wenige Wochen vor seinem Tod. Mortier kämpfte wie immer. Denn seine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen westlichen Theaterbetriebs fiel schlecht aus: Vorbei der große Aufbruch der Sechzigerjahre, sei es das Living theatre oder das Theater von Grotowski, die Schaubühne von Peter Stein. Das Fazit Mortiers: Wir erleben gegenwärtig eine Periode der Restauration.
In sieben Kapiteln, in denen der Begriff der Dramaturgie jeweils verschieden konnotiert ist, fächert Mortier seinen Theaterbegriff auf. Kapitel eins ist einer Dramaturgie eines neuen theatralischen Genres, einem europäischen politischen Theater gewidmet, dessen Existenz man sich eng verknüpft mit dem Genie Claudio Monteverdis denken sollte. Neu ist das nicht, von Mortier aber auf engstem Raum mit bemerkenswerter Stringenz bis in die Moderne fortgeschrieben, wenngleich in diesem wie auch in den folgenden Kapiteln nicht der Theaterwissenschaftler, sondern der Theaterpraktiker schreibt, mit der eigenen Laufbahn als Folie.
Im zweiten Kapitel über die Dramaturgie der Architektur und des Ortes beschreibt Mortier den Theaterort und dessen Gestaltung ausgehend von der griechischen Antike zunächst als Platz der Polis. Anhand einer ausgesuchten Beispielreihe aus der jüngeren Vergangenheit erläutert Mortier daran anschließend die eminent große Bedeutung der Suche nach unkonventionellen Spielorten als Voraussetzung für die Entwicklung neuer, zeitgemäßer und inhaltlich relevanter Theaterformen. Schlaglichtartig untersucht Mortier im Folgenden die Spielplangestaltung, den Begriff der Werktreue, die Kommunikation von Kulturermöglichern, die unabdingbare Offenheit für Uraufführungen und eine sinnvolle Arbeit mit Künstlern. Am Ende dieses assoziationsreichen Gedankenstroms steht die Liste der Produktionen, die Mortier als Intendant begleitet hat. Vieles davon ist von zentraler Bedeutung für das Musiktheater des späten 20. Jahrhunderts und so ist das vorliegende Bändchen nichts weniger als eine emphatische Streitschrift.
Annette Eckerle