Wagner, Richard

Dokumente und Texte zu unvollendeten Bühnenwerken

Sämtliche Werke, Band 31, hg. v. Isolde Vetter und Egon Voss

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: das Orchester 12/2006 , Seite 79

Als sein eigentliches Werk gelten die zehn Opern und Musikdramen vom Fliegenden Holländer bis zum Parsifal. Wagner selbst hat diesen bis heute für Bayreuth gültigen Kanon in einem Brief an Ludwig II. vom 18. November 1882 festgelegt. Aber es gibt bei Wagner noch ein Werk neben dem offiziellen Werk. Schon in seinen frühen Opern Die Feen, Das Liebesverbot und Rienzi bekennt sich Wagner zur Comedia dell’arte, wie Carlo Gozzi sie verstand, zu Shakespeare und zur römischen Historie. Noch nichts ist da von deutschem Mittelalter, von altgermanischer Mythologie oder pseudoreligiösem Erlösungsgedanken. Ganz und gar europäisch erscheint Wagner, wenn man all jene Bühnenstücke dazunimmt, die er geplant, begonnen, ein Stück weit ausgeführt, aber nicht zum Abschluss gebracht hat.
Es gibt mindestens so viele unvollendete wie vollendete Stücke Wagners. Sie waren ihm wichtig, denn er wollte sie in seine Gesammelten Schriften und Dichtungen aufnehmen. Es gelang ihm aber nicht, seiner Texte, die er verschenkt oder weggegeben hatte, wieder habhaft zu werden. Erst jetzt liegt alles, was an Texten und Dokumenten zur Entstehungsgeschichte auffindbar war, in nie da gewesener Vollständigkeit vor. Der Begegnung mit einem weithin unbekannten, „anderen“ Wagner steht nichts mehr im Wege. Sein geistiger Horizont ist, wie man jetzt deutlicher denn je erkennen kann, weiter, als die meisten Wagnerianer auch nur ahnen.
Die Sarazenin ist eines der vierzehn unvollendeten Werke Wagners, die Egon Voss und Isolde Vetter mit ihren Mitarbeitern mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und Akribie veröffentlicht haben, mit allen nötigen entstehungsgeschichtlichen Informationen. Wagner begegnet einem dort als Verfasser eines buddhistischen Weltentsagungsdramas. Wagner hat die meiste Zeit seines Lebens im europäischen Ausland gelebt. Während seines Schweizer Exils schrieb er, kurz bevor er den Tristan anging, Die Sieger. Ein interessanter Zusammenhang. Die Fragmente zu den Opern Jesus von Nazareth und Achilleus verweisen bereits auf das quasireligiöse Weltabschiedswerk Parsifal. Dass Wagner aber auch zu heiter gelassenem Umgang mit Glaubensfragen fähig war, demonstriert der Prosaentwurf zum geplanten Lustspiel Luthers Hochzeit. Dagegen sollte die Urfassung des Nibelungenrings, Wieland der Schmied, eine Heldenoper werden.
Wer je an Wagners komödiantischen Ambitionen zweifelte, wird vom Text seiner komischen Oper, Männerlist grösser als Frauenlist oder Die glückliche Bärenfamilie frei nach Tausendundeiner Nacht endgültig eines Besseren belehrt. Auch das einaktige „Lustspiel“ aus dem Jahr 1868, eine Neujahrsposse, hat Wagner „gegen ernste Verstimmung“ geschrieben. Der frühe Prosaentwurf der Oper Die Bergwerke zu Falun zeigt ihn als Romantiker im Fahrwasser E.T.A. Hoffmanns. Dagegen ist Eine Kapitulation, ein „Lustspiel in antiker Manier“, frei nach Aristophanes, eine derb komische, ja bösartige Abrechnung mit dem Deutsch-französischen Krieg, mit Paris und mit Jacques Offenbach, der sogar selbst auftritt. Zweifellos ein Dokument von Wagners chauvinistischer Seite, die nicht abzustreiten ist.
Wie auch immer: Mit diesem Band gewinnt das bislang vorherrschende Bild von Richard Wagner entschieden an europäischen Facetten und Farben, an Kontur und Schärfe. Ein wichtiges Buch!
Dieter David Scholz