Rota, Nino / Ernest Chausson / Maurice Ravel

Divertimento Concertante / Poème pour Violon et Orchestre / Tzigane

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Bella Musica BM 31.2428
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 70

Im Jahr 2009 nahmen der Kontrabassist Wies de Boevé und die Geigerin Min Hee Lee an der Carl Flesch Akademie in Baden-Baden teil und wurden im Rahmen dieser Meisterkurse mit einem Preis ausgezeichnet. Mit der Baden-Badener Philharmonie unter der Leitung von Pavel Baleff waren beide Preisträger auch an einer CD-Produktion beteiligt und konnten dabei ihr technisches und künstlerisches Können unter Beweis stellen. Während der belgische Kontrabassist hierfür eine weniger bekannte Komposition wählte, Nino Rotas Divertimento Concertante, sind die beiden anderen Werke der CD mit der Solistin Min Hee Lee gängige Repertoirestücke für die Violine. Die Gefahr dabei ist, dass die Interpretation der Preisträgerin mit denen vieler renommierter Geiger verglichen wird.
In ihrer Virtuosität und Perfektion kann die südkoreanische Violinistin mit dem Spiel bekannter Kollegen mehr als Schritt halten. Es ist bewundernswert, wie sie die technischen Herausforderungen der Konzertrhapsodie von Maurice Ravel mit den zahlreichen Flageoletts und Pizzicati, den viergriffigen Akkorden und brillanten Passagen mit ständiger Bewegung und die vielen Tempowechsel meistert. Den Melodien verleiht Min Hee Lee jene exotische Klanglichkeit, die Ravel mit seiner ungarisch-zigeunerischen Adaption evozieren wollte. Darüber hinaus jedoch vermag sie (noch) nicht den Kantilenen eine Struktur oder einen Charakter zu geben, weshalb die Interpretation wie ein Feuerwerk auf emotionaler Sparflamme anmutet.
Noch deutlicher tritt dieser Mangel bei Chaussons lyrischem Poème zutage: Die breit angelegten Kantilenen, deren Zusammenfügung Debussy als „Freiheit der Form“ lobte, verlieren an Halt und Spannung, wenn diese wenig inspirativ gestaltet werden – und die ganze Interpretation schleppt sich auf Dauer ein wenig vor sich hin. Da kann auch die klanglich gut aufgelegte Baden-Badener Philharmonie wenig hilfreich zur Seite stehen. Vielleicht hätte sich Min Hee Lee mit einer anderen Werkauswahl einen größeren Gefallen getan.
In diesem Sinn ist die Wahl Wies de Boevés von Nino Rotas weniger bekanntem Divertimento Concertante sehr geschickt. Auch in dieser Komposition muss der Solist technische Schwierigkeiten meistern, aber die formale Sprache, die neoklassizistische Geschlossenheit ist eine Hilfe, das Werk auch mit seinen großen Bögen in den Griff zu bekommen. Weitschwingende Kantilenen oder emotionale Ausbrüche sind eingebettet in ein musikalisches Ganzes – und die Baden-Badener Philharmonie unterstützt den Solisten im konzertierenden Dialog. Lediglich in den scherzohaften Passagen, beispielsweise im zweiten, „Marcia“ überschriebenen
Satz oder im Finale wünscht man sich eine größere Leichtigkeit und Beschwingtheit.
Trotz der hier angeführten, ein wenig negativ klingenden Punkte bestechen beide Solisten in ihrer Spielweise. Die Anmerkungen sind lediglich als konstruktive Bemerkungen zu verstehen und nicht als destruktive Interpretationskritik. Man darf zumindest auf den weiteren künstlerischen Lebensweg von Min Hee Lee und Wies de Boevé gespannt sein.
Klemens Fiebach