Beethoven, Ludwig van
Discovering Beethoven with Joachim Kaiser and Christian Thielemann
Symphonies Nos. 1, 2 & 3/4, 5 & 6/7, 8 & 9, Konzertmitschnitte aus dem Musikvereinssaal Wien
In den vergangenen Jahren kam eine ganze Reihe von Aufnahmen mit sämtlichen Beethoven-Symphonien auf den Markt. Manch einer mag vielleicht Zweifel haben, ob es gelingen kann, sich nun wieder verstärkt an Furtwängler oder Karajan zu orientieren, nachdem Originalklangexperten Roger Norrington oder Paavo Järvi ganz andere Richtungen einschlugen.
Doch solche Bedenken sind in Windeseile zerstreut. Man ist vielmehr dankbar, dass der Zeitgeistverweigerer Thielemann keinen Moden, sondern eigenen Überzeugungen folgt. Von wegen ein romantischer Klang sei dicklich und klebrig: Die Wiener betören vielmehr mit einem unnachahmlich edlen, schlanken, eingedunkelten und bei all diesen Qualitäten auch stets transparenten Klang. Spielen die Streicher eine einfache Melodie, dann besitzt sie allemal die angemessene Schlichtheit. Ansonsten besitzen diese live im Wiener Musikverein mitgeschnittenen Wiedergaben alles, was Beethovens Symphonik ausmacht: das Heroische, Dramatische in den Kopfsätzen, eine Grazilität in den Scherzos und Menuetten, eine wunderbare Innigkeit und Zartheit im Lyrischen. Bei den Finalsätzen, vor allem in der Eroica und in der Fünften, fühlt man sich unweigerlich an den jungen Feuerkopf Celibidache erinnert, so kraftvoll, leidenschaftlich und vor allem überraschend schnell geht Thielemann sie an.
Seine größte Meisterschaft aber zeigt er in den langsamen Sätzen, bei denen er sich alle Zeit der Welt gönnt und eine subtile, im Konzertsaal heute selten gewordene Pianokultur hören lässt. Wie aus dem Nichts setzen die Streicher in Sätzen wie dem Adagio molto cantabile in der Neunten ein, geben ihren Melodien emotionale Tiefe, bereiten den Teppich für die Soli der Holzbläser, bei den Wienern eine Sektion der Extraklasse. Man spürt, wie die Musiker, von denen einige diese Symphonien gewiss schon Dutzende von Malen gespielt haben, dieses Musizieren unter Thielemann genießen, fern von jeglicher Routine, hoch konzentriert und mit einem wohltuenden heiligen Ernst bei der Sache. Zu Thielemanns besonderen Raffinessen zählen die Zäsuren und Übergänge, etwa eine bislang kaum so beachtete Fermatenstelle im Allegro molto der Zweiten, an der Thielemann den Vorgriff auf die Neunte deutlich macht. Oder jener knisternde Moment, wenn sich die Musik vom mystischen, fast fahlen, leisen Gänsehaut-Grummeln im Finale der Fünften ins strahlende C-Dur Bahn bricht.
Wertvoll auch die beigegebenen Dokumentationen mit knappen, aber aussagekräftigen Interpretationsvergleichen mit Karajan, Bernstein, Norrington, Dudamel und anderen. Vor allem Thielemanns Analysen wirken sehr aufschlussreich, besonders seine einfallsreichen, treffenden Szenarien, die er etwa für die Introduktion des Eroica-Finales entwirft: Einer steht nachts auf und tapst unsicher im Dunkeln herum, weil er den Lichtschalter nicht findet! Auf eine solche Assoziation muss man erst einmal kommen. Dagegen steuert Musikkritiker Joachim Kaiser wenig Erkenntnisreiches bei, nimmt sich vielmehr mit blasierter Attitüde wichtig mit so rhetorischen, überflüssigen Fragen und Floskeln wie: Herr Thielemann, ist Ihnen eigentlich klar, dass
? Als wäre sein Gegenüber kein Dirigent von Weltklasse, sondern ein Student im dritten Semester.
Kirsten Liese