Frauenkulturbüro NRW/Hannah Schmidt (Hg.)

Dirigent*innen im Fokus

Warum klassische Musik fundierte Machtkritik braucht

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: transcript, Bielefeld
erschienen in: das Orchester 6/2024 , Seite 64

Klassische Musik war über lange Zeit von Männern dominiert; in den Orchestern selbst und bei ihrer Leitung, in Musikhochschulen, im Musikmanagement, in der Musikwissenschaft. Während sich Geschlech-
terverhältnisse in anderen Bereichen der Gesellschaft rapide entwickeln und verändern, gibt es im Musik- und Theatersektor – vor allem auf Führungspositionen – immer noch eine Vorherrschaft von „alten, weißen Männern“. Seit der aus der amerikanischen Filmindustrie im Jahr 2017 entstandenen, intensiven MeToo-Debatte werden Geschlechterrollen, Macht- und Abhängigkeitsstrukturen auch im künstlerischen Bereich grundsätzlich hinterfragt. In dieser Situation hatte das Frauenkulturbüro NRW im Herbst 2020 einen runden Tisch initiiert, um sich insbesondere mit der Frage auseinanderzusetzen, warum so wenige der 129 Berufsorchester in Deutschland von Frauen geleitet werden. Die in diesem Diskussionsprozess gewonnenen Erkenntnisse stellen inhaltlich die Basis für das vorliegende Buch dar.
Der Journalistin Hannah Schmidt ist es sehr gut gelungen, verschiedene Diskussionsfelder einer strukturellen Geschlechterdiskriminierung aufzutun, aber auch zu bündeln; hat sich im Verlauf der mehrmonatigen Arbeit an dem Buch doch herauskristallisiert, dass die Thematik weit mehr Facetten hat, als man auf den ersten Blick vermutet. Die Aussage des Dirigenten Brandon Keith Brown bringt dies auf den Punkt: „In vielen Branchen suchen jetzt alle nach Frauen, aber sie meinen in Wirklichkeit weiße Frauen.“ In mehreren einleitenden Essays werden Klassik und Klassismus, soziale Konflikte im Theaterbetrieb oder die Diskriminierung in der europäischen Kulturszene aus Sicht eines afrikanischen Musiktheaterpraktikers beschrieben. In drei weiteren Abschnitten behandelt Hannah Schmidt in Einzelinterviews die strukturelle Perspektive von Diskriminierungen, lässt Dirigentinnen und Dirigenten zu Wort kommen und fragt unter der Überschrift „Das Patriarchat in Vollblüte“ nach möglichen Lösungsansätzen. Durch das Einfangen und geschickte Hinterfragen unterschiedlicher Wahrnehmungen für Gründe, Ursachen, aber auch Veränderungspotenziale entstehen beim Leser sehr viele Überlegungen, wie beschriebene Defizite abgebaut und vorhandene Potenziale ausgebaut werden können.
Am Ende geht es also um viel mehr als um Strategien, mehr Dirigentinnen vor Orchestern zu sehen, sondern insgesamt den klassischen Musikbetrieb neben dem Bereich Personal auch im Publikum und bei der Programmierung diverser aufzustellen. Ermutigende Ansätze in der Praxis gibt es bereits. Dieses Buch liefert eine Fülle von Denkanstößen und Perspektiven, um entsprechende Entwicklungen positiv zu befeuern.
Gerald Mertens