Kolbe, Corina

Digital Concert Hall

Der Markt ist noch längst nicht gesättigt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 06/2011 , Seite 30
Per Mausklick zum Musikerlebnis in Echtzeit: Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker verzeichnet seit ihrem Start vor über zwei Jahren weltweit steigende Abonnentenzahlen. Olaf Maninger, Geschäftsführer der Berlin Phil Media und Tobias Möller, Leiter Marketing und Kommunikation bei Berlin Phil Media, erklären im Interview, wie auch andere Orchester vom Erfolg des virtuellen Konzertsaals profitieren können.

Im Januar 2009 haben die Berliner Philharmoniker ein bahnbrechendes Projekt zur Liveübertragung ihrer Konzerte im Internet gestartet. Welche Zwischenbilanz können Sie heute ziehen?
Olaf Maninger: Die Digital Concert Hall ist nach wie vor ein riesiges Abenteuer, wir haben das gesamte Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft. Der Zuspruch aus dem Publikum, der von Anfang an höchst erfreulich war, hat sich noch kräftig gesteigert. Auch die technischen Voraussetzungen haben sich weltweit zu unseren Gunsten weiterentwickelt. Der Umgang mit der Internet-Technologie wird immer einfacher. Das kommt uns sehr entgegen. Denn wir wollen nicht nur Technikexperten ansprechen, sondern alle an klassischer Musik interessierten Menschen, die ohne große Hürden unseren virtuellen Konzertsaal besuchen wollen. Die Künstler, mit denen wir zusammenarbeiten, unterstützen uns ebenfalls nachhaltig. Der Enthusiasmus der Startphase ist also keineswegs abgeflaut.

Seit Neuestem kann man die Konzerte des Orchesters auch live im Kino erleben. Was sind für Sie die interessantesten Entwicklungen der jüngsten Zeit?
Tobias Möller: Die Digital Concert Hall hatte keine Vorläufer, daher konnten wir nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Insofern begreifen wir es nach wie vor als tägliche Herausforderung, auf die Erwartungen unseres Publikums einzugehen und die Funktionalität der DCH weiterzuentwickeln. Dass wir inzwischen Konzerte auch live in Kinos übertragen, ist eine logische Konsequenz. Kinobesucher können unser Angebot wahrnehmen, ohne sich um irgendwelche technischen Voraussetzungen kümmern zu müssen. Das Kinoerlebnis kommt zudem dem Erlebnis im Konzertsaal sehr nahe. Möglich wird dies erst durch die moderne Digitaltechnik. Früher brauchte man für Kinovorführungen eine Filmkopie – inzwischen ist das nicht mehr nötig.

Inwieweit machen solche Liveübertragungen den eigentlichen Konzerten Konkurrenz?
Olaf Maninger: Für uns steht außer Frage, dass ein echtes Livekonzert durch nichts zu ersetzen ist. Übertragungen im Internet, im Kino, im Radio und im Fernsehen können da niemals heranreichen. Gleichwohl hat jedes Segment sein Alleinstellungsmerkmal. Als Kind ging ich nicht nur gern ins Konzert, sondern hörte auch mit Begeisterung klassische Musik im Radio. Ich war dann in einer eigenen Welt und hatte keinen Nachbarn, der hustete oder mit Bonbonpapier raschelte.
Im Kino ist das Orchester zwar auch nicht physisch anwesend. Der Zuschauer spürt aber eine besondere Nähe. Wer einmal eine leinwandfüllende Aufnahme von einer Hornbläsergruppe beim Schluss-Tutti von Mahlers dritter Sinfonie gesehen hat, wird das nicht so schnell vergessen. Dieses visuelle Erlebnis bietet der reale Konzertsaal nicht.

Wie gehen die Orchestermusiker damit um, dass ihr Bild in Nahaufnahme und in Echtzeit um die ganze Welt geht?
Olaf Maninger: Die Berliner Philharmoniker sind seit Jahrzehnten daran gewöhnt, von einem großen Medienpublikum beobachtet zu werden. Ganz gleich, ob unsere Konzerte im Fernsehen gesendet, auf DVD aufgenommen oder in der Digital Concert Hall übertragen werden. Als Musiker denkt man daran, dass jederzeit ein Finger bei einem besonders schwierigen Lagenwechsel in Großaufnahme ins Bild kommen kann. Die Liveübertragungen verleihen den Konzerten einen besonderen Reiz. Oftmals setzen die Musiker zusätz­-
liche Energien frei und spielen noch konzentrierter, als sie es ohnehin schon tun.

Selbst bei optimaler Vorbereitung kann es bei Liveübertragungen zu technischen Pannen kommen. Wie bereiten Sie sich auf den “worst case” vor?
Tobias Möller: Glücklicherweise ist bisher nur in einigen wenigen Fällen tatsächlich etwas schiefgegangen. Wir versuchen das dann unserem Publikum offen und direkt zu kommunizieren. In solchen Momenten wird uns klar, dass wir das Internet mit unserem Angebot an seine Grenzen führen. Denn eigentlich ist es nicht dafür konzipiert, HD-Bilder über die ganze Welt zu verteilen. Wenn Probleme auftauchen, werden sie in der Regel nicht von uns selbst verursacht. Wir schicken das Signal immer erfolgreich hinaus. Was dann auf dem Weg zum Nutzer passiert, können wir leider nur eingeschränkt kontrollieren. Wir bauen aber darauf, dass unsere Erfahrungen weiter wachsen und dass der Rahmen, in dem wir uns im Internet bewegen, immer zuverlässiger wird.

Die Digital Concert Hall wird von der Berlin Phil Media GmbH bewirtschaftet. Welche Position nimmt die Gesellschaft innerhalb der Geschäftsstrukturen der Stiftung Berliner Philharmoniker ein?
Olaf Maninger: Berlin Phil Media ist eine der beiden hundertprozentigen Tochtergesellschaften der Stiftung Berliner Philharmoniker. Wir sind also Teil einer großen Familie. Als Mitglied des Orchesters und des Stiftungsvorstands bin ich zugleich als Geschäftsführer der Berlin Phil Media tätig. Unser Projekt wird großzügig von dem Sponsor Deutsche Bank unterstützt, der bereits das Education-Programm Zukunft@BPhil ermöglicht.

Was können Sie zu der bisherigen wirtschaftlichen Entwicklung der DCH sagen?
Olaf Maninger: Wir beobachten einen durchaus erfreulichen Trend. Dass sich im Internet zunehmend Bezahlformate durchsetzen, kommt uns sehr zugute. Bei unserem Start waren solche Angebote noch eher dünn gesät. Inzwischen gehen aber immer mehr Anbieter dazu über, Formate, die über eine gewisse Grundversorgung mit Informationen hinausgehen, kostenpflichtig zu machen. Somit können auch wir unseren Nutzern leichter plausibel machen, dass sie unsere Konzerte im Internet nicht gratis anhören können. Anfang 2009 konnten wir allerdings überhaupt nicht abschätzen, wie viele Leute wir als Kunden gewinnen würden. Da nun immer mehr technischen Hürden fallen, bewegt sich die Zahl der Besucher der Digital Concert Hall weiter in die Höhe. Wie schnell dieses Wachstum verläuft, lässt sich aber nicht verlässlich vorhersagen. Davon werden wir uns weiterhin überraschen lassen.
Tobias Möller: Die Abonnentenzahlen haben insbesondere seit Beginn dieser Saison deutlich zugelegt. Grund dafür ist sicherlich auch, dass wir die DCH vollständig überarbeitet und die Funktionalität stark vereinfacht haben. Auch unser Ticketsystem hat sich verändert. Nachdem sich das Saison-Abo als eher unhandlich erwiesen hatte, ist das Zwölf-Monats-Ticket inzwischen unser wichtigstes Angebot geworden.

Aus welchen Ländern kommen die meisten Kunden?
Tobias Möller: Deutschland ist mit einem Anteil von knapp 30 Prozent weiterhin unser größter Markt. Die Tatsache, dass über 70 Prozent unserer Nutzer im Ausland leben, zeigt uns aber auch, dass unser Angebot international auf starkes Interesse stößt. Rund 17 Prozent unserer Kunden haben wir in Japan, knapp dahinter folgen die USA sowie europäische Länder. Japan ist bekanntermaßen ein wichtiger Markt für klassische Musik. Dass wir dort so viele Abonnenten haben, erstaunt uns allerdings. Denn wenn bei uns um 20 Uhr ein Konzert beginnt, ist es dort vier Uhr morgens. Einige hartgesottene Musikliebhaber setzen sich selbst um diese Uhrzeit vor den Computer. Für den größten Teil der Nutzer in Japan fällt das Liveerlebnis aber aus nachvollziehbaren Gründen aus. Da stößt ein globales Angebot einfach an seine Grenzen.

Wie ausbaufähig ist das Marktsegment, in dem Sie sich bewegen?
Tobias Möller: Dank der technischen Entwicklung können wir theoretisch noch eine viel größere Zahl von Menschen erreichen. Der Markt, in der sich eine Plattform wie die Digital Concert Hall bewegt, ist noch längst nicht gesättigt. Es kommt uns nun darauf an, durch unsere Kommunikationskanäle alle potenziellen Nutzer zu erreichen, die auf das Angebot bisher noch nicht aufmerksam geworden sind. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die DCH mit jeder Woche wertvoller wird, weil das Konzertarchiv weiter wächst. All dies lässt uns sehr optimistisch in die Zukunft blicken.

Welche Rolle spielen für Sie soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter oder die Videoplattform YouTube?
Tobias Möller: Bei der Akquise neuer Kunden sind die sozialen Netzwerke unsere wichtigsten Kommunikationswege. Da passt unser audiovisuelles Material bestens hinein. In unserem eigenen YouTube-Kanal platzieren wir drei Minuten lange Videoclips, die auch auf Facebook und Twitter verlinkt werden. Um diese Angebote herum hat sich eine sehr lebendige Community gruppiert. Oft stellen wir fest, dass wir ein unglaublich informiertes Publikum haben. Da kommen etwa Fragen zu einem unbekannten Hornisten, der als Aushilfe eingesprungen war. Oder es wird intensiv über Bruckner-Dirigenten diskutiert.

Die Berliner Philharmoniker haben das YouTube-Sinfonieorchester durch Video-Aufrufe und -Meisterklassen unterstützt. Hat Ihnen dies nicht ebenfalls viel positive Resonanz verschafft?
Olaf Maninger: Wir haben gern mit dem Projekt zusammengearbeitet. Die YouTube-Gemeinde ist eine wichtige Zielgruppe: technikaffine, junge Kreative, die sich zugleich für klassische Musik interessieren. Ein virtuelles Orchester aus jungen Menschen entspricht im Grunde genommen auch genau den Zielsetzungen, die wir durch unser Education-Programm vermitteln wollen. Wer weiß, vielleicht können wir einmal einen Auftritt des YouTube-Orchesters in Berlin veranstalten und Musiker aus aller Welt zu uns einladen.

In welche Richtung wollen Sie die Digital Concert Hall weiter ausbauen?
Olaf Maninger: Ich habe eine Vision, die über den heutigen Stand der DCH noch weit hinausgeht. Die Zuschauer sollen nicht nur Konzerte erleben, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen werfen können. Dabei soll eine Nähe zu den Künstlern entstehen, die man bei einem Konzertbesuch nicht hat. Die bisherigen Pausen-Interviews genügen mir noch nicht. Ich möchte mehr vom Backstage-Bereich zeigen, etwa durch Gespräche vor den Konzerten oder Porträts von Musikern und Instrumentengruppen. In einem weiteren Schritt wollen wir die Digital Concert Hall auch für Veranstaltungen öffnen, die auf Einladung der Stiftung Berliner Philharmoniker in der Philharmonie stattfinden.

Wollen Sie damit auch Orchester beruhigen, die befürchten, dass die Digital Concert Hall ihnen ihr Publikum wegnehmen könnte?
Tobias Möller: Wir werden tatsächlich gelegentlich gefragt, ob wir mit unserer digitalen Plattform die gewachsene Orchesterlandschaft in Deutschland zerstören wollen. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Natürlich glauben wir nicht, dass die Säle leer bleiben, nur weil wir Konzerte im Internet übertragen. Mit Hilfe der Digital Concert Hall möchten wir Menschen im ganzen Land sogar dazu ermutigen, häufiger in Konzerte in ihren Heimatstädten zu gehen. Aufgrund der hohen Dichte herausragender Orchester sind wir in Deutschland doch in einer sehr privilegierten Lage. Dennoch kommen viele Leute in ihrer Jugend nicht mehr automatisch mit klassischer Musik in Berührung. Wir können nun dazu beitragen, ihnen neue Türen zu öffnen. In der DCH können sie sich ganz zwanglos an die Musik herantasten, ohne die Sorge, vielleicht an der falschen Stelle zu klatschen.

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